Vor 75 Jahren, am 16. März 1940, starb die erste Literaturnobelpreisträgerin, die Schwedin Selma Lagerlöf. Ein Anlass für eine erneute Würdigung ihres Werkes und Lebens, denn im Bewusstsein der großen Öffentlichkeit lebt sie hauptsächlich als Autorin des häufig als Kinderbuchklassiker missverstandenen Schweden-Romans Nils Holgersson. Es gibt jedoch noch viel mehr und Neues zu entdecken, da seit einigen Jahren nun auch ihre privaten Briefe zugänglich sind.
Selma Lagerlöf kam 1858 auf dem Gut Mårbacka in der entlegenen schwedischen Provinz Värmland zur Welt. Höhere Schulen und Universitäten besuchten damals nur die Söhne der Gutsbesitzer, die Töchter wurden von Gouvernanten unterrichtet, lernten Handarbeit und den Haushalt führen, um später eine möglichst gute Partie zu machen. Selma Lagerlöf kam mit einem Hüftgelenkschaden zur Welt und schätzte deswegen, als sie heranwuchs, ihre Chancen auf dem Heiratsmarkt gering ein. Warum also sollte sie sich auf Handarbeit und Haushalt beschränken lassen?
Das Leben auf Mårbacka war recht eintönig – mit einem Vater, der nach einer schweren Lungenentzündung zu viel trank, einer Mutter, die alles ertrug, der vier Jahre jüngeren Schwester Gerda, die ihr sehr am Herzen lag, und mit Tante Lovisa, einer unverheirateten, etwas schrulligen Schwester des Vaters. Im Sommer – von Mittsommer bis zum Geburtstag des Vaters im August – reisten die beiden älteren Brüder sowie die Verwandtschaft an und füllten das Haus mit Leben. Dann kehrte wieder Stille ein.
Als Kind und heranwachsende Frau verließ Selma Lagerlöf zwei Mal zum Besuch eines Gymnastischen Instituts in Stockholm die Värmländische Provinz. Es war ihr erster Blick auf die Welt. Im Alter von 23 Jahren ging sie nach Stockholm, um das Volksschullehrerinnenseminar zu besuchen, und lernte dort jene Frauen kennen, die sie später dabei unterstützten, Schriftstellerin werden zu können. Erst einmal aber trat sie in der Kleinstadt Landskrona am Öresund eine Lehrerinnenstelle an. Doch die Abende und Nächte schrieb sie und erschien morgens mit tintenfleckigen Fingern und dunklen Rändern unter den Augen zum Unterricht.
1888 ging das elterliche Gut in Konkurs, es kam zur Versteigerung. Selma Lagerlöf beschloss, ihr Värmland, ihre Heimat, in der Fantasie weiterleben zu lassen. 1891 erschien ihr erster Roman: Gösta Berlings Saga. Einige Damen in Stockholm, die sich für die Rechte der Frau engagierten, hatten Geld gesammelt, damit sie eine Vertretung bezahlen konnte, um den großen Värmland-Roman, mit dem sie sich über den Verlust ihrer Heimat hinwegtröstete, fertigzustellen. Der Traum, finanziell unabhängig zu werden und nicht mehr unterrichten zu müssen, erfüllte sich jedoch noch nicht.
Erst nachdem Selma Lagerlöf die Schriftstellerin Sophie Elkan kennengelernt, mit ihr eine große Italienreise unternommen und einen Italien-Roman verfasst hatte, wagte sie den Schritt in die Unabhängigkeit. In den Briefen Selma Lagerlöfs an Sophie Elkan, die aus einer großbürgerlichen, jüdischen Göteborger Familie stammte, begegnet sie uns despektierlich und übermütig.
Die zweite große Reise der beiden Frauen führte nach Ägypten und ins Heilige Land – eine Reise, die vieles veränderte. Lagerlöf schrieb den großen Auswandererroman Jerusalem, der ihren internationalen Ruhm begründete. Durch den ursprünglich als Schulbuch konzipierten Roman Nils Holgerssons wunderbare Reise wurde sie wohlhabend, was es ihr ermöglichte, das Gut Mårbacka zurückzukaufen. Das Gut war nicht für immer verloren und wurde nun wieder ihr zu Hause. Nach Ausflügen in die Welt und nachdem sie Weltruhm erworben hatte, kehrte sie in ihre värmländische Heimat zurück.
Im Jahr 1909 erhielt sie den Nobelpreis und wurde fünf Jahre später, ebenfalls als erste Frau, in die Schwedische Akademie gewählt, die den Nobelpreis vergibt. Ihr schriftstellerischer Ehrgeiz blieb bis ins hohe Alter ungebrochen: Sie schuf Werke wie Der Fuhrmann des Todes und die Löwensköld-Trilogie, die den Leser immer wieder überraschen, da sie Form und Erzählton stark variierte, sich gewissermaßen immer wieder neu erfand. Es gibt viel zu entdecken – in ihren Büchern, in ihrem Leben.