«Ein steiler, gewundener Steinweg hinauf nach San Miniato. Hohe, alte, vielfach geborstene Sandsteinmauern zu beiden Seiten, efeuüberwachsen. Robinie, Brombeere, Schlehe; und immer wieder der Ölbaum von jenseits, wo die gestuften Gärten liegen. Sanfter Wind gegen die Sonne des Nachmittags; Stille – nur das Geräusch einer Hacke, und von weither das Rauschen der Stadt. Es riecht nach Pfefferminz. Das holprige Kieselpflaster strahlt die Hitze des Tages zurück. Von da, wo ich sitze, sehe ich nur das Erdgelb eines Hauses aus dem Grün des Tälchens unten leuchten. Aber darüber, über dem flach verschwimmenden Häusermeer, rot und weiß und scharf gezeichnet, die Kuppel. Wie eine dunkle Kulisse dahinter die bläulichen Berge von Careggi. Hier, nur wenige Minuten von der alten Stadtmauer und dem Tor, scheint der ganze Lärm von Florenz versunken.»
Gleich zu Beginn seines Buches Florenz und die Geburt der Individualität* hält Thomas Krämer den Lärm der modernen Stadt an. Und gewissermaßen auch die Zeit. Er führt uns vom Ausgang seiner Betrachtung hinein in den so entstandenen Raum, hinein in die Zeit des Quattrocento, vor die Kunstwerke der Frührenaissance, die heute noch in Florenz zu bestaunen sind und die von einem Geheimnis erzählen, das Krämer im Laufe seiner Abhandlung zu ergründen beginnt.
Langsam nähert er sich der großen Kuppel des Doms von Santa Maria del Fiore und geht dabei den Spuren von vier zentralen Künstlerpersönlichkeiten nach, die in der Zeit um die Erbauung dieses architektonischen Wunders in Florenz lebten und wirkten: Lorenzo Ghiberti, Filippo Brunelleschi, Donatello und Masaccio.
In ihren Biografien und Arbeiten kommt etwas zum Ausdruck, das auf diese Weise noch nie zuvor da war. Es zeigt sich in der Art, wie sich die vier Meister in ihrem Schaffen von den überlieferten Vorgaben der alten Ikonografie lösen und sich von der sphärisch-symbolischen Darstellung hinein in einen weltlich-lebendigen Ausdruck bewegen. Es wird erkennbar in der Art der «Beseelung» ihrer Figuren, in der plastischen Formgebung, dem Spiel mit Licht und Farben auf Gewändern und Gesichtern und in den charaktervollen Blicken ihrer Figuren. Es tritt aber auch in der Entdeckung der Zentralperspektive zutage und erscheint in der Architektur der Domkuppel. In eingehender Betrachtung widmet sich Krämer diesem Phänomen. Er vertieft sich in Ghibertis detailliert bebilderte Paradiesestür am Baptisterium San Giovanni, vollzieht Brunelleschis Arbeit an der Domkuppel nach, umschreitet Donatellos Statuen und versenkt sich in Masaccios Malerei.
Das Schwärmerische in diesen konzentrierten Ausführungen wechselt mit der Beschreibung von technischen Abläufen und Herausforderungen in einen pragmatisch-nüchternen Ton. Dann wird es wieder laut in der Stadt. Dann hört man den Baulärm um die Errichtung der Domkuppel, die Hämmer der Kunstschmiede, die Diskussionen um den besten Entwurf, der – im Fall des Kuppelbaus – durch eine umfassende Volksbefragung der Florentiner Bürger seinen Segen bekommt. So modern kann die Vergangenheit sein. Hinter allem und durch alles klingt aber die Erzählung von der «Geburt der Individualität», die sich zu jener Zeit in jenen Kunstwerken vollzieht. Sie ist das Phänomen, das Geheimnis eines neuen Zeitenanbruchs, von dem Krämer berichtet. Sein Buch macht wach für ein Verstehen dieses Bewusstseinswandels. Aber so tief es auch geht, so anschaulich die Erläuterungen auch sind, wirklich und lebendig erfassen kann man das, was diese schönen und charakterdurchwirkten Kunstwerke aussprechen, wohl nur von Angesicht zu Angesicht. Also auf nach Florenz mit diesem Buch im Gepäck!