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Erika Dühnfort

Wie wird aus Wörtern ein Gedicht?

Nr 195 | März 2016

Gedichte bestehen aus Worten – mit demselben Material werden auch Zeitungsartikel gebaut. Allerdings kommen die ohne Verse und Reime aus. Indessen: Wie viele geschickt und flüssig gereimte Verse gibt es (bei Familienfeiern, Trauer­fällen), die es nie zum Gedicht bringen!
Worte sind Bedeutungsträger – vielleicht liegt es darin. Möglicherweise gibt es Bedeutungen, die für lyrische Gedichte besonders geeignet sind. Ruft man sich allerdings Gedichtzeilen ins Gedächtnis, so wird schnell deutlich, dass der Wortbestand als solcher oft kaum Ungewöhnliches enthält: «damals», «am Abend», «der Wind», «um das Haus», «stark», «Schultern», «rütteln», «Laub», «Gras», «Seele» (Peter Huchel); «Frühling», «blaues Band», «Lüfte», «süß», «Düfte» (Mörike); «füllen», «still», «Busch und Tal» – dann allerdings ein neu geschaffenes dichterisches Wort «Nebelglanz» (Goethe). Doch Wort-Neuschöpfungen begegnet man auch in der Alltagssprache immer wieder, ohne dass sie dadurch poetisch würde: Börsenfieber, Trittbrettfahrer, Geisterfahrer, Aussteiger, Lauschangriff, Geldwäsche, Warteschleife – Wörter dieser Art wird man in lyrischen Gedichten nur selten finden, höchstens in ganz «heutigen», und die müssten dann schon sehr gut sein, um durch ihre Form den Wortbrocken zu verkraften, ihn aufzuwiegen und sich einzuverleiben.
Weder Reim noch Vers noch die Bedeutungen der Worte lassen also erkennen, dass sie die Ursache sein könnten für die Wirkungen, die von lyrischen Gedichten ausgehen. Es muss noch etwas anderes geben.
Ein Lyrik-Liebhaber, Reinhard Teske, machte den Versuch zu beschreiben, was er im Umgang mit Gedichten erfuhr. Dabei griff er selbst zur lyrischen Form und wählte die Überschrift: «Trost der Worte».

In ein paar Worte
bin ich eingetreten
freundlichen Umgang pflegen sie
und friedensvoll
binden sie sich
aneinander

Auch schließen sie mich ein
lösen die Furcht
bringen die leere Saite
zum Erklingen
wie eine Wohltat
wenn sie kommt
von guten Freunden.

Auch hier (in den oben angegebenen beiden ersten Strophen) hält sich jemand fest am «rettenden Geländer». Und er vermag auszusagen, worin das Wohltuende, das er erfährt, besteht:
Die Verbindung ist es, die die Worte miteinander eingehen, der friedensvolle Umgang, in dem sie sich aneinander reihen; er schafft einen Raum, in den der Leser eintreten kann.
Verfolgen wir diesen Weg weiter. Nehmen wir aus den zuvor angeführten Wortsammlungen die längste heraus, sie stammt aus einem Gedicht von Peter Huchel: Haus, Abend, Wind, Schultern, Laub, Linde, Gras, Seele. So fügte der Dichter diese «paar Worte» zusammen, dass sie sich «friedensvoll anein­ander binden»:

Damals
Damals ging noch am Abend der Wind
mit starken Schultern rüttelnd ums Haus.
Das Laub der Linde sprach mit dem Kind,
das Gras sandte seine Seele aus …?

Plötzlich sind statt der losen Worte Stimmungen da – und Bilder. Die wenigen Zeilen beschwören eine Welt von Kindheits­erinnerungen herauf, die trotz des am Hause rüttelnden Windes Sicherheit und Geborgenheit ahnen lassen. Das Erinnerungs­moment wird einerseits ausgelöst durch das vorweg stehende «damals», andererseits durch die nachfolgenden Vergangenheitsformen «ging», «sprach», «sandte aus». Die Windböen rüttelten als starke Schultern, das Laub der Linde sprach, die Seele des Grases war – «ausgesandt» – spürbar. Eine zu wachem Empfinden aufrufende Umgebung ist ent­standen; in den noch folgenden (dreizehn) Zeilen des Gedichtes setzt sich das in gleicher Weise fort. Dazu bedarf es weder ungewöhnlicher Wörter noch solcher von besonderer Bedeutung. Allein durch ihre so gesetzte Folge bildet sich das Gedicht. Dass es von Melodik durchtönt ist, kann man zwar auch beim Lesen hören, weit deutlicher aber erfährt man es, wenn man die Verse spricht und sich sprechend von ihrem Klang führen lässt.