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Jean-Claude Lin

Mit der «Neigung zum Putz und zum Spiele»

Nr 200 | August 2016

Der Regel nach ist das Lösen eines Sudokurätsels denkbar einfach: Setze in jedes leere Feld eine Zahl von 1 bis 9, sodass in jeder Zeile und jeder Spalte und jedem der 3 x 3 Quadrate die Zahlen 1 bis 9 nur einmal vorkommen. Der Reiz des Lösens liegt darin, dass die Lösung durch die angegebenen Zahlen bereits vorliegt – nur ist sie unsichtbar: Die noch fehlenden Zahlen müssen alle noch bestimmt, müssen zum Vorschein gebracht werden. Dazu dienen die vorgegebenen Zahlen auch, dass durch logische Schlussfolgerungen alle noch fehlenden Zahlen ein­deutig ermittelt werden.
Heutzutage werden Sudokurätsel fast in jeder Zeitung und jedem Magazin abgedruckt. Doch hätte nicht eine kleine Schar eifriger Rätselkomponisten in Japan einen besonderen Sinn für das ästhetische Potenzial dieser Rätselart gehabt und die Symmetrie in ihre Sudokurätsel eingeführt, wie auch den Namen «Sudoku» geprägt, ist fraglich, ob diese Rätsel sich weltweit ausgebreitet hätten und so beliebt geworden wären.
Ein besonders schönes Exemplar eines Sudokus aus der Rätselschmiede der japanischen Meisterkomponisten des Verlags Nikoli ist das oben abgedruckte aus dem Band Noch mehr einsame Hunde.* Es ist zwar ein «leichtes» Sudoku, aber keineswegs ein triviales. Schauen Sie sich die Aufstellung der Zahlen 1 bis 6 im Zentrum an! Erst denkt der Komponist an die schöne Auf­reihung, doch damit ist kein lösbares Soduku geschaffen. Erst durch das Hinzufügen der Zahlenpaare in den Ecken wird das Sudoku eindeutig lösbar. Nur hat der Komponist darauf kommen müssen, welche Zahlen dafür notwendig sind. Und das Ganze schafft er noch, ohne eine einzige 9 angeben zu müssen!
Der deutsche Dichter, Historiker und Philosoph Friedrich Schiller hat einmal in seinen Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen geschrieben: «Und was ist es für ein Phänomen, durch welches sich bei dem Wilden der Eintritt in die Menschheit verkündigt? Soweit wir auch die Geschichte befragen, es ist dasselbe bei allen Völkerstämmen, welche der Sklaverei des tierischen Standes entsprungen sind: die Freude am Schein, die Neigung zum Putz und zum Spiele.» Wie schön ist es, dieser Neigung nachgehen zu können im Ausüben unseres ruhigen, folgerichtigen Denkens!



*Der Titel Einsame Hunde ist dem japanischen Namen und der Schreibweise des Rätsels entlehnt: «Su» heißt auf Japanisch «Zahl»: eine Zahl oder auch mehrere Zahlen. Aber die Silbe bedeutet auch «zählen, berechnen». «doku» bedeutet «alleine» oder «einsam». Wenn man «doku» als japanisch-chinesisches Schriftzeichen schreibt, enthält dieses fast gemalte Silbenzeichen ein anderes Schriftzeichen als Bestandteil: das Zeichen für «Hund» – daher die hübsche Assoziation «einsamer Hund» für eine Buchreihe mit Sudokus im Verlag Freies Geistesleben.