Carolyn Jourdan hatte alles, was das Herz begehrt: einen Mercedes Benz, schicke Abendgesellschaften, die besten Kleider. Sie war in den höchsten gesellschaftlichen Kreisen von Washington D.C. zu Hause, stand auf vertrautem Fuß mit großen Politikern und arbeitete auf dem Kapitol. Und dann hat ihre Mutter einen Herzinfarkt. Carolyn fährt nach Hause, um ihrem Vater in seiner Landarztpraxis in den Bergen von Tennessee zu helfen. Sie wird – nur für ein paar Tage, wie sie meint – als Sprechstundenhilfe einspringen. Doch die Tage werden zu Wochen, zu Monaten …
An jenem Abend kam Fletcher herüber und wollte nach der Ursache für ein lautes Motorengeräusch bei meinem Mercedes suchen. «Ich weiß nicht, woher dieses Geräusch kommt, Carolyn, aber fahr bitte nicht damit, bis ich es herausgefunden habe. Es könnte irgendetwas kaputtgehen.» – «Also gut», sagte ich. «Dann werde ich mit dem alten Pick-up fahren.» Frustriert trat ich gegen einen der Reifen. «Weißt du, ich habe beschlossen, den Tatsachen ins Auge zu sehen: Ich bin eben einfach ein Redneck. Es war verrückt von mir, jemals etwas anderes zu glauben.» – «Mach dir keine Gedanken», sagte er, «es wird schon richtig auskommen.»
«In Washington wäre ich vielleicht übers Ziel hinausgeschossen, aber da habe ich mich an das gehalten, was scheinbar von mir erwartet wurde. Ich habe versucht, erfolgreich zu sein. Ich bin dazu erzogen worden, erfolgreich zu sein. Inzwischen weiß ich nicht mehr, was das eigentlich bedeutet.» – «Wenn du irgendjemanden hier fragst», sagte Fletcher, «wird er sagen, dass er deine Mutter und deinen Vater für erfolgreich hält.» – «Aber was würden sie über ihre Tochter sagen?» – «Dass sie eine gute Tochter ist und ihrer Familie dabei hilft, sich um die Menschen hier zu kümmern.»
«Aber ich kann mich doch gar nicht um sie kümmern!», sagte ich. «Ich sitze einfach auf einem Stuhl und schaue zu, wie sie sterben. Wusstest du das nicht? Wie kann man es nur aushalten, Tag für Tag an einen solchen Ort zurückzukehren? Die Vorstellung, Menschenleben retten zu können, ist schön und gut, aber wenn du das nicht mehr glauben kannst, wo liegt dann noch der Sinn?» – «Einfach da zu sein ist manchmal das Beste, was wir für jemanden tun können», sagte Fletcher, «und die traurige Wahrheit ist, dass es manchmal auch das Einzige ist. Und wenn wir einmal nicht wissen, wie wir etwas für andere tun können, können wir doch zumindest für sie da sein. Aber das braucht Mut. Alles braucht Mut. Man braucht Mut, wenn man sich um Menschen kümmert.»
In dem Moment wurde mir klar, dass Fletcher uns soeben das Motto für ein Familienwappen gegeben hatte: WIR SIND DA. Jeden Tag, komme, was da wolle, und überdies ertrugen wir das alles mit gelassenem Schweigen. Bei uns würde jeder seinen Part spielen, solange es ihm möglich war. Hoffnungslos frustriert starrte ich Fletcher an.
«Weißt du, man kann das auch anders sehen», sagte er. – «Und zwar?» – «Du weißt doch, dass dort, wo in den Geschichten der Bibel ein Engel auftaucht, der erste Satz immer lautet: ‹Fürchte dich nicht!›» – «Ja.» – «Nun, ich habe fast mein ganzes Leben dazu gebraucht, um schließlich herauszufinden, dass er uns mit diesen Worten unsere Angst nicht nehmen will. Er gibt uns einen Befehl. Es ist ein Befehl, der mehr als dreihundert Mal in der Bibel gegeben wird. Der Herr befiehlt uns, unsere Furcht nicht zuzulassen. Wir können es uns nicht leisten, Angst zu haben. Das würde uns einfach davon abhalten, unsere Aufgaben zu erfüllen.»
Ich war sprachlos. Eine solche Deutung war mir nie in den Sinn gekommen, und sie entsprach gewiss nicht dem, was in der Kirche gelehrt wurde. Furchtlosigkeit entwickeln wir nicht, wenn wir Trost erfahren, wenn Gott uns auf die Schulter klopft und uns ein Teil der Angst genommen wird. Vielmehr bedarf es der bewussten Entscheidung, unserer Schwäche nicht nachzugeben.
«Ich weiß nicht, ob ich diese Art von Mut habe», sagte ich. – «Aber genau darum geht es ja», sagte Fletcher. «Jeder bekommt Angst. Es ist ganz in Ordnung, Angst zu haben. Aber die Angst darf nicht dein Leben bestimmen. Wenn du dem Herrn nur in dieser einen Sache folgst, wirst du kaum Mut brauchen – noch nicht einmal Glauben. Folge ihm nur in diesem einen Punkt», sagte Fletcher.