Alle Welt kennt das Gemälde. Wer es einmal vor Augen hatte, wird es nie mehr vergessen. Es weckt unmittelbar Bewunderung für seine Machart und ein zeitloses, unbestimmtes «Je ne sais quoi» – einen Odem, einen Rhythmus. Es wurde schon viel darüber geschrieben. Aber egal, was man darüber gesagt haben mag, es bleibt ein Rätsel: Wenn wir es betrachten, sind wir in der Situation eines Lesers, der einen rätselhaften Krimi liest, dem das letzte Kapitel fehlt. Es magnetisiert, es lockt an, man könnte fast sagen, es beschwört uns, aber wir können noch so viel hinsehen, wir sehen nichts in ihm – oder besser gesagt, wir sehen, dass es etwas zu sehen gibt, aber wir sehen nicht, was das ist. Der wahre Sachverhalt entgeht uns. Der Sinn entzieht sich uns. Damit müssen Sie klarkommen, sagen uns der Mann und die Frau in dem Bild, das man seit über hundertfünfzig Jahren Die Arnolfini-Hochzeit (The Arnolfini Portrait, Les Époux Arnolfini) nennt.
Wenn man genau hinschaut, wird indes ersichtlich, dass schon alles da ist, vor unseren Augen, seit eh und je. Wenn wir nichts erkennen, dann liegt das daran, dass mit unübertroffenem Geschick platzierte Täuschungsmanöver das Auge und den Geist ablenken und dafür sorgen, dass das, was gemalt wurde, unentdeckt bleibt: eine Strategie, die wir von Zauberkünstlern und den Autoren kriminalistischer Rätselfälle kennen (wie Agatha Christie in Zehn kleine Negerlein), und die van Eyck hier als außerordentliches Kunststück in einem Werk der Malerei gelingt.
Mit ein bisschen Glück ist der Saal menschenleer. Besorgen Sie sich eine Lupe: Sie können die Sonnenreflexe auf den winzigen Kirschen bewundern, die fein gearbeitete Bordüre des Teppichs, das geflochtene Stroh des schwarzen Hutes. Sie werden dann noch weitere Details bemerken, versteckte, kaum sicht-bare – und Sie werden immer weiter in ein Labyrinth von Lichtreflexen vorstoßen, in ein Spiegellabyrinth. – Schauen Sie hin.
Jan van Eyck hat das Die Arnolfini-Hochzeit genannte Bild im Jahr 1434 gemalt: rätselhaft, von befremdlicher Schönheit, beispiellos und ohne seinesgleichen in der Geschichte der Malerei.
Aber vielleicht wurde es doch nicht 1434 gemalt. Alles, was wir hinsichtlich des Datums wissen, steckt in einem sibyllinischen Satz in schlechtem Latein, der in kalligrafischer Schrift anstelle einer Signatur oberhalb des Spiegels steht:
Johannes de Eyck fuit hic
1434.
Nicht fecit oder complevit, sondern fuit hic. Es heißt also nicht, Jan van Eyck malte oder vollendete dieses Bild im Jahre 1434, sondern «Jan van Eyck war 1434 hier». Oder: «Der hier war Jan van Eyck im Jahr 1434.»
Der Satz ist doppelt zweideutig. Er besagt nicht, dass das Bild aus dem Jahr 1434 datiert, sondern, dass die dargestellte Szene sich in jenem Jahr ereignete. Er hütet sich aber, uns darüber zu informieren, ob Jan van Eyck Zeuge dieser Szene war oder ihr Protagonist. Er stellt das Bild unter das Zeichen der Doppeldeutigkeit.