Titelbild Hochformat

Sigrid Undset

Als der Schnee auf sich warten ließ …

Nr 240 | Dezember 2019

Die Nobelpreisträgerin Sigrid Undset (1882–1949) musste im April 1940 ihr Zuhause in Lillehammer verlassen und vor den Deutschen über Schweden in die USA fliehen. Im Exil entstand 1942 ein Text, in dem sie sich an glücklichere Zeiten erinnert, die nicht wiederkehren würden, auch an ein Weihnachtsfest, als ihre Kinder noch klein waren, in einem Jahr, in dem der Schnee lang auf sich warten ließ. Hier schildert sie besonders heiter einen Spaziergang mit ihrem 7-jährigen Sohn.
~
Mutter und Hans kletterten über den Zaun hinten im Garten und schlugen den Pfad über die Felder ein. Er stand unter Wasser und sie sprangen von einem Grasbüschel zum nächsten. Jedes Mal, wenn Hans in eine Pfütze trat, jauchzte er vor Vergnügen. Ab und zu platschte auch Mutter in eine Pfütze, und da johlte er noch verzückter.
«Stell dir vor, Hans, heute ist es nur noch ein Monat bis Heiligabend.» – «Dann musst du bald mit dem Vorlesen beginnen. Von damals, als Gott geboren wurde.» Mutter hatte ihrem Jüngsten bislang immer vor Weihnachten aus dem Weihnachtsevangelium vorgelesen. «Hör mal, Mutter, du kannst es doch auswendig? Erzähl mir doch einfach jetzt davon, dann musst du mir nicht mehr daraus vorlesen, wenn ich im Bett liege, und kannst mir stattdessen ein Märchen erzählen.»
Wie gut, dass Hans sowohl fromm als auch praktisch veranlagt war. Mutter begann zu erzählen. Hans schob seine kleine Hand in die seiner Mutter, denn nun hatten sie die Landstraße erreicht. Hier ging es zügiger voran als auf dem Pfad über die Felder.
«… aber es waren einige Hirten, die in dieser Nacht auf dem Feld lagen und ihre Schafe hüteten …» – «Und sie waren betrunken», fiel Hans gespannt und verzückt ein. «Nein, wie kommst du darauf?», erkundigte sich Mutter entsetzt. «Natürlich waren sie nicht betrunken. Wo hast du das nur her? Die Hirten waren gute, fromme Menschen …» – «Doch, Mutter. Männer, die nachts auf der Erde liegen, sind immer betrunken.»
In jenen Jahren nach dem Ersten Weltkrieg herrschte die Prohibition in Norwegen. Und selbst die kleinsten Kinder interessierten sich ungemein für Übertretungen dieser Alkoholverordnung. Noch ehe Mutter wieder das Wort ergreifen und mit der biblischen Geschichte fortfahren konnte, meinte Hans nachdenklich: «Der verlorene Sohn, von dem die Rede war, schlief auch nachts draußen, weil er so viel trank und ständig feierte. Erinnerst du dich nicht? Du, Mutter, wo hat er eigentlich seinen Branntwein gekauft? Vielleicht bei diesen Pharisäern, die haben ihn damals sicher schwarz gebrannt.» – «Aber nein, im Gegenteil. Das war ja das Verrückte, die Pharisäer nahmen es mit allem viel zu genau …» – «Ach, ich glaube, die haben nur so getan. Bestimmt mussten sie sich andauernd mit den Zöllnern prügeln, weil sie Schnaps gebrannt und verkauft haben.»
Dass sich die Geschichten, die er in den Religionsstunden hörte, in grauer Vorzeit abgespielt hatten, war Hans nicht so ganz bewusst. Pastor Sund hatte sich bestimmt nicht wenig gewundert, als er von der Vertreibung Adam und Evas aus dem Paradies erzählte und Hans daraufhin bemerkte: «Aha, darum hat sie jetzt einen Frisörsalon in der Storgata aufgemacht.» Denn seit Kurzem gab es im Ort einen neuen Salon, der EVA hieß.
~
Aus der Ferne des Exils schildert Sigrid Undset die heimischen Bräuche und ihre Wurzeln im besonders wärmenden Licht der Erinnerung. Und trotz des Schmerzes, den Flucht, Exil und der Tod ihres ältesten Sohnes Anders – er war im Kampf gegen die Deutschen gefallen – hervorgerufen haben, gelingt es ihr, den leichten Ton dieser glücklicheren Zeiten unbeschwert anklingen zu lassen.