Brigitte Werner

Der Tag, als ich Renate wurde

Nr 173 | Mai 2014

Eigentlich fahre ich mein Altpapier immer zur Goethestraße. Und eigentlich büxt Frau Rosenzweig* immer in den Stadtgarten aus, der nahe ihres Seniorenheimes liegt. Aber an diesem Tag ist es anders. Ich parke mein gut gefülltes Auto und sehe eine alte Dame sehr nah am Rand des Bürgersteiges der sehr befahrenen Straße stehen. Mir stockt das Herz. Ich rase los, halte sie an ihrem Arm fest und bin erschrocken, wie dünn er ist. Die gepflegte alte Dame blickt verwirrt. Ihre Füße stecken in Pantoffeln.
Es ist ein sehr kühler Tag. Ich fröstele. Die Pantoffellady zittert in ihrer dünnen Seidenbluse. Sie schaut mich aufmerksam an. Ihre Augen sind weise und kindlich zugleich. Als sie lächelt, wachsen Falten in ihr Gesicht.
«Renate», haucht sie. Sie drückt mich feder­zart an ihre Brust. «Wie schön, dass du gekommen bist ...» Sie blickt sich um und fragt: «Waren wir schon einmal hier? Weißt du, ich bin ein bisschen vergesslich geworden.» Sie kichert und erwartet Pro­test. Ich überlege blitzschnell. Da sie mich kennt, kann ich sie nicht siezen. Es würde sie noch mehr verwirren. Ich führe sie zum Auto. «Komm», sage ich, «wir fahren eine Runde.» Sie steigt artig ein und zieht ihren Rock glatt. «Wohin möchtest du?», frage ich, in der Hoffnung, dass ich ihre Adresse erfahre. «Ach, Kindchen», flüstert sie, «du weißt doch, in Marburg ist es am schönsten.» Ich schlucke. Marburg ist weit weg. Und ohne Frage ist sie nicht mit diesen Pantoffeln von Marburg nach Herne gelaufen. «Weißt du», sage ich, «ich bin auch schon ganz vergesslich geworden. Ich habe sogar vergessen, wie du heißt.» Sie blickt erschrocken in mein Gesicht. Dann lächelt sie. «Wirklich?», sagt sie fast frohlockend, und: «Ich bin doch deine Tante Ida.» Ich strahle. So eine Tante wollte ich schon immer haben.
Ich erfinde eine Geschichte, damit sie mehr verrät. Das kann ich gut. Es klappt. Ich liege richtig. Die Dame Ida wird im Seniorenheim am Rand der Stadt vermisst. Man hatte sie wie immer im nahen Stadtpark gesucht.
Ihr hübsches Zimmer hat eine Menge gerahmte Fotografien. Ich entdecke Renate, sie ist hübscher als ich. Alle Fotos erzählen viel über die Geschichte von Ida Rosenzweig. Ihr verstorbener Mann, ein jüdischer Richter, hatte den Krieg in Amerika überlebt und
war dann nach Deutschland zurückgekehrt. In Marburg hatten sie geheiratet. Sie zeigt auf die gemeinsamen Kinder, auf David, Aron und Sarah am Strand – jung und unglaublich schön. Sie erzählt und erzählt, und ich werde zu einer Jägerin, einer Sammlerin. Ich habe ein untrügliches Gespür für Geheimnisse. Ida hat auch eins. Als ich ihren Mann betrachte, der üppig und herab­lassend in die Kamera blickt, beugt sie sich zu mir. «Renate, Kindchen», flüstert sie, «ich verrate dir etwas, was er nicht weiß ...»
Meine Ohren werden zu Radarschüsseln. «Ich war jung und dumm und er ein Hohlkopf, immerzu nur mit sich selbst beschäftigt.» Sie schweigt. Mir kommt ein Verdacht. «Und der andere, war er schön?», frage ich. «Sehr schön», kichert sie und drückt meinen Arm. «Herr Wronski war charmant. Und schön!» Ich schlucke. Was läuft hier gerade ab? Ich kenne auch einen Herrn Wronski, aber woher? Der Name kreist in meinem Kopf. Sollten wir doch auf irgendeine Weise miteinander verbunden sein? Ich grübele und grübele. Beim Abschied sehe ich auf dem Tisch ein sehr zerlesenes Buch liegen – Anna Karenina erkenne ich. Und verstehe: Graf Wronski hat also auch ihre lieblose Ehe verschönt.
Beschenkt mit einer Tante, einer Idee für eine Kurzgeschichte und mit David, Aron und Sarah, die nun ein erfundenes Leben in meinem damals begonnenen Roman führen, fahre ich nach Hause. Wie gut, dass Ida an diesem Tag keine Lust auf den Stadtgarten hatte. Und wie gut, dass ich zum Container an den Westring gefahren bin.