Brigitte Werner

Aus allen Ecken und Kanten

Nr 176 | August 2014

Engel kamen bisher in meinem Leben nicht vor. Höchstens auf den wundervoll kitschigen Glanzbildern meiner Kindheit. Oder im Kinder­­gottesdienst als furchteinflößende Verkünder. Aber dann: Mein Patenkind musste ins Krankenhaus in Herdecke. Als ich die kleine Patientin besuchte, staunte ich. So ein Krankenhaus hatte ich bisher nicht gesehen. Es war freundlich und hell und hatte eine beruhigenden Atmosphäre. Und in dem schönen, lichten, kinder­freundlichen Zimmer hing ein wunderschöner Engel mit einer Lilie in der Hand über dem Bett. Der Engel strahlte eine solche Liebe und Sanftmut aus, dass ich ihn immer wieder anschauen musste. Er berührte mich auf eine mir fremde Weise. Als ich ein paar Tage später in einer Buchhandlung ein Buch aus dem Regal nahm, fiel mir ein anderes Buch auf den Kopf. Als ich es aufhob, lächelte mich der Engel aus dem Kranken­haus an. Das Buch trug den Titel Warum Engel fliegen können. Na, dieser hier konnte es, das hatte er soeben bewiesen. Ich blätterte, las kreuz und quer, musste lächeln und beschloss, es zu kaufen – und es veränderte mein Leben.
Die Autorin hatte viel Spaß mit ihren Engeln, das stand fest. Sie be­schrieb auf amüsante Weise, wie sie in ihrem Leben Platz genommen hatten, wie sie mit ihnen kommunizierte, ihnen Briefe schrieb, ihnen Aufträge gab, sie überall wahrnahm. Ich war neidisch, denn ich wusste genau, das würde bei mir niemals klappen. Ich glaubte schon immer gerne allerhand merkwürdiges Zeugs, ich habe einen Hang dazu, aber niemals, das wusste ich, würden mir solch wundersamen Dinge passieren. Die Engel lehrten mich eines Besseren. Als ich begann, mich nach ihnen zu sehnen, kamen sie aus allen Ecken und Kanten angeflogen. Karten mit Engeln waren im Briefkasten, machte ich das Radio an, sang gerade eine Stimme von Angels, eine Freundin brachte einen richtigen Kracher mit: Ein dicker Engel schwebte plötzlich in meinem Bad. Ich wusste aber sehr genau, sollte ich einen von ihnen leibhaftig sehen, so würde ich sofort in eine tiefe, schreckensstarre Ohnmacht fallen. Das wussten die Engel auch, und so flogen sie andere, seltsame Kurven und Pirouetten durch mein Leben. Ich brauchte einen Kreuzschraubendreher für ein neues Bücherregal, das unbedingt noch in der Nacht aufgebaut werden musste, aber ich hatte nur Schlitzschraubenzieher. Am anderen Morgen lag ein alter, schwerer Kreuzschraubendreher in der exakt richtigen Größe auf meinem Gartenmäuerchen. Etwas angerostet, aber voll funktionsfähig. Okay, ich bedankte mich. Aber war das nicht nur ein dummer Zufall? Als ich 150 DM für eine wichtige Reparatur an meinem Auto bezahlen sollte, geriet ich in Not. Mein Geld war, wie meistens, sehr, sehr knapp. Ich schrieb einen Engelbrief und hing ihn in die Kastanie. Sie würden ihn finden, sagte die Autorin. Und lesen würden sie auch können. Naja, er hing dort eine ganze Weile. Als die Werkstatt ungeduldig wurde, kam ein Anruf vom Kinderschutzbund, für den ich immer mal wieder Projekte mit Kindern in den speziellen Brennpunkten gemacht habe. Die nette Dame meinte, sie hätten in einer Sitzung beschlossen, meine Arbeit mit einem Zusatzbonus zu belohnen:
Es waren 150 DM. Ich war so fassungslos, dass ich noch nicht einmal DANKE stammeln konnte. Ich erzählte ihr mutig von meiner Werkstattrechnung und meinem Engelbrief. Ich hatte Angst, dass sie mich für durchgeknallt hielt. Sie schwieg eine Weile und sagte, dass sie die Gabe habe, in Kranken­häusern Engel zu sehen, aber sie habe noch nie mit jemandem darüber geredet. Nun taten wir es. – Die Engel kicherten in der Leitung und schlugen Saltos.
Ich muss aber zugeben, dass ich sie immer mal wieder in meinem Leben vergesse. Sie sind niemals nachtragend. Wenn ich mich nach langer Zeit reumütig zurückmelde, strahlen sie mich an. Und im Radio oder in einem mitgehörten Gespräch im Bus oder in einer Buch­zeile, einem Schaufenster, einem sanften, rosaroten Abend­licht zwinkern sie mir zu. Ja, glauben Sie mir, sie können das.