Birte Müller

Gebrauchskaninchen

Nr 189 | September 2015

Wenn es um das Wohl der eigenen Kinder geht, sind Eltern zu fast ALLEM bereit. Sogar dazu, sich einen Stall mit Kaninchen auf die Terrasse zu stellen. Auf jeden Fall haben wir das für Willi getan, obwohl alle Welt die Nase rümpfte und mich vorwurfsvoll mit dem Die-armen-Kaninchen-Blick anschaute. Die armen Kaninchen, was für ein Quatsch! Sie sind einfach Nutztiere, es sind «Gebrauchs­kaninchen». Wir sind doch überall umgeben von Produkten, die von Tieren stammen, die meisten Leute essen Tiere sogar auf – und dann soll es Tierquälerei sein, dass hier drei Kaninchen Blasmusik hören und ein behindertes Kind ab und zu gegen die Gitter haut? Nö, das sehe ich nicht ein.
Da wir fest entschlossen waren, die Kaninchen wieder zurückzubringen, falls sie uns keinen Nutzen bringen sollten (unsere Kaninchenspender sind jederzeit bereit, sie wieder in ihre Herde zu nehmen), versuchte ich, keine zu enge Bindung zu ihnen aufzubauen. Ich nannte die drei von Anfang an konsequent nur «Fellbeutel» und nicht bei ihren richtigen Namen: Alexandros, Bärbel und Hänsel & Gretel. Die Tiere sollten einzig dazu da sein, Willi zu erfreuen und zu beschäftigen. Und tatsächlich klappt das ganz wunderbar. Seit vier Monaten geht Willi nach der Schule immer sofort in den Garten und steckt ein Löwenzahnblatt nach dem anderen zu den Fellbeuteln hinein. Es ist das tollste Steckspiel der Welt. Man kann sich danebensetzen und einen Kaffee trinken und muss nur ab und zu frischen Löwenzahn pflücken. Aber den Rücken kehren darf man Willi trotzdem nicht! Kaum bin ich außer Sichtweite, versucht Willi die Kaninchen aus dem Stall zu ziehen oder selbst hineinzuklettern. Und für diese Art Gebrauch sind die Tiere dann doch nicht gedacht. Deswegen gleichen bei uns Stall und Außengehege so einer Art «Kaninchen-Guantanamo Bay»! Übrigens bin ich nicht sicher, wer geschickter ist: Willi beim Hineinkommen oder die Fellbeutel beim Herauskommen. Auf jeden Fall habe ich, seit die Viecher bei uns sind, schon viel, sehr viel Zeit mit Einfangen verbracht ... Aber wiederum laaange nicht so viel wie Willi mit Füttern. Die Kaninchen amortisieren sich voll. Nur doof ist es, wenn sie satt sind. Willi hat beim Blätter-in-Karnickel-Stecken so viel Geduld, dass die armen Tiere in der Zeit, die er in der Schule ist, Diät machen müssen, sonst sind sie nicht hungrig genug. Übrigens haut Willi erst gegen den Käfig, wenn die Kaninchen nicht mehr fressen wollen. Sie mögen Willi trotzdem sehr; wann immer er auftaucht, hüpfen sie aufgeregt vorne am Gitter umher, denn sie wissen, dass ER der ganz große Futter­spender ist. Ich wette, wenn sie Trompeten hören, haben sie schon Speichelfluss!
Genau betrachtet beginnen die harten Zeiten für die Kaninchen immer nur dann, wenn Olivia und ihre Freundinnen mit ihnen spielen. Sie haben nicht länger als drei Minuten Spaß am Füttern vor dem Gitter, danach werden die armen Tiere in Puppenwägen gelegt, müssen im Zirkus auftreten und werden frisiert. Spätestens dann merke ich, dass es mit meinen Vorsatz, die Fellbeutel nicht zu sehr ins Herz zu schließen, nicht so gut geklappt hat, denn ich erlaube das den Mädchen nie lange – die armen Kaninchen! Aber ich könnte es vielleicht auch schon daran merken, dass ich beim Fernsehen jetzt oft statt in die Glotze lieber aus dem Fenster schaue, um unsere süßen Fellbeutelchen zu betrachten. Oder daran, dass ich ständig mit ihnen spreche? Egal, sie sind und bleiben Nutztiere – denn jemanden zum Reden zu haben ist ja auch von Nutzen.

Da es Leserinnen und Leser gab, die betroffen auf diesen Beitrag von Birte Müller reagierten und es zudem Menschen gab, die die Autorin beschimpften und beleidigt haben (was wir mehr als grenzwertig finden), erschient es uns angebracht, einen Brief zu diesem Beitrag zu stellen:

Liebe Leserin, lieber Leser
vielen Dank für ihre offene Reaktion!
Bitte entschuldigen Sie, dass ich mit diesem Text so falsch versanden werden konnte! Eigentlich sollte es lustig sein – und vor allem Selbstironisch. Das hat scheinbar nicht wirklich funktioniert.
Aber man muss sich ganz sicher keine Sorgen um unsere Kaninchen machen!
Die Mädchen dürfen sie nicht mehr umher tragen, wie gesagt, habe ich da doch selber genug Mitleid mit den Tieren.
Außer Willis Blasmusik (in auch für mich erträglicher Lautstärke) sind sie wirklich recht artgerecht bei uns untergebracht. Sie haben einen großen Doppelstock Stall und 15 qm Auslauf mit Röhren und Böschung zum Flitzen und Springen, wo sie immer mindestens 16 Stunden frei laufen (und natürlich auch fressen!)
Am Vormittag kommen sie dann in den Stall, damit sie Willi glücklich machen können, wenn er sie nach der Schule füttert. Ab dem späten Nachmittag springen sie wieder durchs hohe Gras. Wir lassen sie doch nicht wirklich hungern!
Willi füttert die Tiere ausgiebig, geduldig und liebevoll. Sicher, die Kaninchen glauben wohl manchmal, dass sie im «Erdbebengebiet» leben, weil er öfter mal am Käfig ruckelt (der jedoch sehr fest verschraubt ist), aber sie zucken nicht mal mehr zusammen dabei! Wenn sie Willi sehen, sind sie immer vorne am Gitter und freuen sich auf frischen Löwenzahn!
Ich denke ich habe mich nur geärgert, dass andere Leute meinem Willi pauschal kein Haustier «zugetraut» haben, aufgrund seiner Behinderung.
Letztendlich hat er aber viel mehr Empathie für die Tiere, als so manches «normale» Kind, eben weil er sie nicht als Spielzeug benutzt.
Behinderte Menschen und Tiere haben oft sehr, sehr enge Verbindungen. Willi braucht ihre Nähe, beruhigt sich in ihrer Gegenwart, ist konzentriert, fokussiert und zärtlich (was bei ihm alles selten ist).
Sie sind tatsächlich so eine Art «Therapiekaninchen», aber trotzdem nicht für uns seelenlose «Mittel zum Zweck» , gerade im Gegenteil!
Man darf meine Texte nicht 1:1 erst nehmen! Und sie müssten doch herausgelesen haben, wie sehr mir unsere Hoppler ans Herz gewachsen sind – ich spreche wirklich viel mit ihnen!
«Gebrauchskaninchen» das sollte eine Witz sein, ein kleine Provokation. Aber letztendlich finde ich es gut, dass es Menschen gibt wie Sie, die bei dem Thema Tierschutz keinen Spaß verstehen.
Es tut mir wirklich Leid, dass sie meinen Text nicht «lustig» finden und das meine ich ganz ernst. Ich respektiere das und denke vor allem in Zukunft darüber nach, will ich doch niemanden anregen, Tiere als Gebrauchsgegenstände zu sehen. Sie sind Lebewesen mit allen Rechten!
Ich versichere Ihnen, unsere Kaninchen haben es ganz sicher sehr gut bei uns! Und mit Blasmusik muss ich ja auch leben lernen.

Liebe Grüße und vielen Dank für ihre wahren Worte,
Birte Müller