Birte Müller

Wie man’s falsch macht

Nr 198 | Juni 2016

Immer mal wieder werde ich gefragt, wie man sich denn gegenüber einer Familie mit einem behinderten Kind richtig verhält. Ein allgemeines «Richtig» gibt es natürlich nicht, weil ja jeder Mensch ganz anders ist. Allerdings habe ich festgestellt, dass es sehr wohl einige Dinge gibt, die definitiv IMMER falsch sind, ich notiere sie auf einer meiner Listen.
Ein Vater eines Kindes mit Down-Syndrom hat aus seiner Liste sogar mal ein «Bullshit-Bingo» gemacht. Eine Bingo-Karte mit den blödesten Sprüchen, die er dann gemeinsam mit seiner Frau im Geiste abhaken konnte, wenn sie einen Gesprächspartner hatten, bei dem sie sich für die Existenz ihres Kindes rechtfertigen mussten. Ganz oben stand natürlich «Habt ihr das denn nicht testen lassen?» (was auch bei mir oben steht); und weiter unten sogar «So etwas muss heute doch nicht mehr sein» (was mir persönlich aber noch nie jemand gesagt hat). Dass es unverantwortlich sei, so ein Kind zu bekommen, habe ich allerdings schon öfter gehört. Auch den Kostenfaktor bekam ich mehrmals vorgeworfen. Natürlich bekommt man in einem solchen «Bullshit-Bingo» nie die Karte bei einem einzelnen Gespräch voll – jedoch wüsste ich genau, was es bedeutet, wenn mein Mann in einer Unterhaltung «Bingo!» sagen würde. Wir könnten uns anschauen und gemeinsam lächelnd aufstehen und den Raum verlassen: Hauptgewinn! Tatsächlich finde ich aber allein das Wort «Bullshit-Bingo» schon so furchtbar, dass wir keines haben. Das ist ja der Inbegriff für negative Erwartungen.
Irgendetwas ist in uns Menschen, dass man sich oft mehr am Negativen aufhält als am Schönen. So viele liebevolle Dinge hat man mir schon über meine Kinder gesagt. Warum führe ich darüber keine Liste? Wann immer ich ein Interview gebe, werde ich ausgiebig nach Diskriminierung und blöden Kommentaren befragt. Die Leute empören sich einfach gerne – es ist ja auch einfach zu unterhaltsam!
Eine Mutter wurde einmal von der Polizei angehalten, weil sie falsch abgebogen war. Sie hatte hinten im Auto zwei Kleinkinder, von denen das eine das Down-Syndrom hatte und das andere gerade wie am Spieß schrie. Der Polizist schaute in den Wagen und sagte dann mitleidig: «Ach, fahren Sie mal weiter, Sie sind ja schon genug bestraft.» Wie unter Schock fuhr sie tatsächlich weiter und hätte den Beamten später aber am liebsten wegen Diskriminierung angezeigt, so beleidigt war sie. Heute lachen wir darüber.
Die echten Verletzungen passieren meist im persönlichen Umfeld. Im Krankenhaus erzählte mir eine Mutter, dass sie die Freundschaft zu ihrer besten Freundin wegen eines einzigen Satzes aufkündigt hatte. Ihr herzkrankes und schwer behindertes Baby schwebte seit Wochen zwischen Leben und Tod. Die Freundin rief zufällig an, als die Kleine gerade in der neunten Stunde der ersten von drei Herz-OPs war, und hatte nichts Besseres zu fragen als: «Aber sonst alles OK bei euch?»
Einmal wurde ich im Supermarkt schlimm von einem älteren Mann angestarrt. Willi saß damals noch im Kinderwagen, und ich hatte das Gefühl, der Mann würde uns geradezu verfolgen. Ich hatte einen schlechten Tag und war kurz davor zu heulen oder den Mann anzuschnauzen, ob er wohl noch nie ein behindertes Kind gesehen hätte. Als er meinen Blick bemerkte, kam er zu mir, entschuldigte sich und erzählte mit Tränen in den Augen, er habe selbst ein Kind mit Down-Syndrom gehabt, das leider viel zu früh gestorben sei. Er wünschte uns alles Gute und sagte, ich werde noch viel, sehr viel Freude mit diesem Kind haben … Und damit hat er auf jeden Fall das Richtige gesagt!