Michael Stehle

L’AUBIER – Das Sichtbare und das Unsichtbare

Nr 206 | Februar 2017

Im Westen der Schweiz, etwa 50 Kilometer von Bern entfernt, liegt der Lac de Neuchâtel, zu Deutsch: der Neuenburger See. Fährt man noch einmal weitere acht Kilometer Richtung Westen, erreicht man das Dorf Montezillon. Auf dem Weg dorthin legt man einige Höhenmeter zurück, was einem vor Ort zugutekommt: Die Aussicht auf den See, auf die Berner Alpen mit Eiger, Mönch und Jungfrau sowie – ein wenig weiter südlich – den Montblanc, ist schon für sich einen Ausflug wert. Doch es erwartet den Besucher noch weit mehr. Gleich am Ortseingang wird man von einem auffallenden Bau zum Verweilen eingeladen: dem Bio-Hotel L’Aubier. Wer hier eintritt, möchte so bald nicht mehr fort. Und vor allem: Man möchte mehr erfahren über das, was diesen Ort ausmacht.
Schnell zeigt sich, dass man mit diesem Wunsch offene Türen einrennt, denn Christoph Cordes, einer der fünf leitenden Geschäftsführer, erzählt gern von Geschichte und Gegenwart dieses Ortes, an dem er seit 17 Jahren lebt. Angefangen habe alles Ende der 70er-Jahre, als zwei Freunde einen Bauernhof auf biologisch-dynamisch bewirtschaftete Landwirtschaft umgestellt haben. Anfang der 80er-Jahre folgten die ersten Schritte Richtung Gastronomie. Inzwischen hat sich das Areal bedeutend ausgedehnt – und mit ihm das Konzept, das hinter L’Aubier steht. «Wenn man als Anfänger gelernt hat, mit drei Bällen zu jonglieren, möchte man gern auch noch den vierten dazunehmen», sagt Cordes im Gespräch – und weist mit diesem Bild darauf hin, dass eine durchdachte Konzeptionierung und der ständige Blick nach vorn hier großgeschrieben werden.

Was klein angefangen hat, ist inzwischen zu einem Hotel mit 25 Zimmern angewachsen – jedes individuell und einladend gestaltet. Dazu gehört ein Restaurant, dessen Zutaten zum größten Teil vom eigenen Hof stammen – selbstverständlich mit Bio-Siegel. Ebenfalls Bio ist alles, was man in dem kleinen Laden erhält, der den Gast unaufdringlich empfängt, wenn man das Restaurant durch die Terrassentür betritt. Was man nicht im eigenen Stall oder auf den zum Hof gehörenden Feldern hat, bezieht man von Partnerhöfen.
Überhaupt spielt der Begriff der Partnerschaft in L’Aubier eine große Rolle. Als man begann, die eigene Milch zu verkaufen, gestaltete sich dies gar nicht so einfach. Normal war es, die Milch an einer zentralen Stelle abzuliefern, wo man keinen Unterschied zwischen Bio-Milch und der herkömmlichen machte. Das wollte man natürlich nicht, und so war man findig und entwickelte auch hier ein eigenes Konzept: Wer die Milch direkt auf dem Hof kaufte, wurde über den Preis, den er zahlte, Mitbesitzer der Kuhherde. So wuchs der Freundeskreis von L’Aubier, der sich in den kommenden Jahren stetig erweiterte. Mittlerweile hat man mehr als 1.500 Finanzpartner, die als Aktionäre, Darlehensgeber oder Inhaber von Partizipations­scheinen das Gedeihen aktiv fördern und lebendig begleiten.
So zum Beispiel auch das gemeinsame Leben in Les Murmures. In 21 Wohnungen verteilt auf fünf Häuser wohnen direkt neben dem Hotel etwa 40 Personen partnerschaftlich zusammen – von Hunden, Katzen und verschiedenen Nagern ganz zu schweigen. Alle profitieren von den partnerschaftlichen und ökologisch-nach­haltigen Ideen der Visionäre L’Aubiers. Und die enden nicht bei Bio-Lebensmitteln und einer prinzipiellen Philosophie des Miteinanders. Auch beispielsweise bei der Energiegewinnung überlässt man nichts dem Zufall – oder der Gedankenlosigkeit einer zentralen Versorgung. «Mit Kühlschränken Wasser erhitzen, mit Regenwasser Wäsche waschen, mit Altpapier Wärme dämmen» – auch das hat man sich in L’Aubier auf die Fahnen geschrieben. Dazu wird ein großer Teil des Stroms, den man für die verschiedenen Bereiche braucht, aus Sonnenenergie gewonnen.

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Fotos: © Charlotte Fischer | www.lottefischer.de | Durch die Bildergalerie geht's per Klick auf die Klammern

Und auch die Kultur kommt nicht zu kurz. In den weit­läufigen Räumlichkeiten des Hotels finden pro Jahr zwei bis drei Ausstellungen statt, zu Lesungen werden namhafte Autoren wie etwa Peter Bichsel eingeladen. Darüber hinaus werden Seminare über nachhaltiges Wirtschaften angeboten, die man besuchen kann. Und für eigene Veranstaltungen kann man die Räumlichkeiten natürlich auch mieten.
«Heute herrscht überall der Grundgedanke, dass eine gesunde Wirtschaft wachsen müsse und dass dieses Wachstum notwendig für ihr gutes Funktionieren sei. Obwohl dieses Vorurteil von den meisten gültigen Wirtschaftsmodellen unterstützt wird, berücksichtigt es nicht die aktuelle Realität. Denn die Welt, in der sich die Wirtschaft entfaltet, ist nicht unendlich. Um Wachstum neu zu denken, muss man also dies berücksichtigen und unterscheiden lernen.» So Marc Desaules, einer der beiden Gründer­väter L’Aubiers und bis heute einer der fünf Visionäre der Geschäftsführung, von denen jeder einen eigenen Bereich betreut, ohne aber Entscheidungen zu treffen, die nicht zuvor im Leitungsgremium besprochen wurden. Mit seinen wirtschaft­lichen Ideen ist er eine der treibenden Kräfte in L’Aubier.

Lässt sich die Philosophie festschreiben, die hinter all dem steht? Wenn man hier zu Gast ist, hat man den Eindruck, dies sei nicht der Fall. Da ist so vieles, von dem man denkt: Wenn die Welt überall so funktionieren könnte wie hier, müsste man sich einige Sorgen weniger machen. Allein, wenn man sich die Konstellation der Mitarbeiter anschaut, denkt man sich: So sollte es funktionieren! In den Geschäftsberichten des Hotels findet man eine erfreuliche Passage, die zeigt, wie weltläufig es in diesem kleinen Ort ist: «58 Menschen aus zehn verschiedenen Ländern arbeiten in L’Aubier.»
Im Jahr 2016 entstand eine weitere Idee. Christoph Cordes erzählt: «Wie reagieren wir darauf, dass viele junge Menschen es schwer damit haben, eine Orientierung zu finden und sich für einen Beruf zu entscheiden, in dem sie viele Jahre ihres Lebens verbringen werden?» Man überlegte, ob man sich noch eine weitere Initiative vorstellen könne, denn auch wenn jeder, der hier verantwortlich mitarbeitet, sich längst von einem geregelten Arbeitstag verabschiedet hat, an dem man zu einem bestimmten Zeitpunkt beginnt und aufhört zu arbeiten, gibt es Grenzen des Möglichen.

Und doch! Seit dem vergangenen Jahr können nach Orientierung suchende junge Menschen nach L’Aubier kommen und eine Ausbildung beginnen. Das Angebot: Gemeinsam leben und arbeiten in einem beweglichen und zukunftsorientierten Organismus. Die Kosten werden durch die Mitarbeit er­wirtschaftet, man lernt die Arbeit in Hotel, Restaurant, Küche und Landwirtschaft kennen. Darüber hinaus gibt es Kurse bei verschiedenen Dozenten, eine globale Öko­nomie wird hier nie aus den Augen verloren. Sie ist das Kernstück dessen, was man erfährt, wenn man hier sein darf. Sei es als Auszu­bildender, als Mitarbeiter oder als Gast. Oder als eine der leitenden Personen. – «Jeden Tag das Gefühl zu haben, die Welt selbst mitzubestimmen – das ist das Besondere an der Arbeit hier», sagt Christoph Cordes. Und dabei vermittelt er nicht das Gefühl, ein Weltverbesserer alter Schule zu sein, der allen anderen zeigen will, wie man leben sollte. Und wahrscheinlich ist es genau das, was den Gast in L’Aubier dazu bringt, sich wohlzufühlen: Der Eindruck, von Menschen umgeben zu sein, die nichts anderes wollen, als so zu leben, wie sie es für richtig halten. Und damit eine Authentizität auszustrahlen, die einem den Wunsch vermittelt, gern noch ein bisschen länger zu bleiben.