Brigitte Werner

Keinhorn-Reh

Nr 206 | Februar 2017

Es ist dämmrig – ich liebe dieses sanfte Licht, wenn alle Konturen weich werden. Etwas Unscharfes legt sich um alle Dinge und trägt sie ein wenig ins Träumerische. Es ist wie ein Ausatmen, ein Ruhigwerden.
Die Landstraße macht eine Krümmung, ich muss aufpassen, denn dieses Licht, mein Lieblingslicht, hat eine Tücke: Ich bin stark nachtblind, und das erschwert das Autofahren sehr. Rechts und links liegen die weich geschwungenen Felder der Schleilandschaft mit den Knicks und Baumstreifen dazwischen. Hin und wieder kreist eine letzte Möwe am violetten Himmel. Ich schaue konzentriert nach vorne, um der Straße zu folgen, da nehme ich aus den Augenwinkeln dunkle Flecken rechts auf der Wiese war.
Ich fahre langsamer, hinter mir ist kein Auto. Ich sehe ein Rudel Rehe oder Hirsche – jedenfalls Damwild, das mit den Köpfen nach unten grast. Mittendrin ein leuchtend weißer Fleck in derselben Haltung. Was kann das sein? Eine mittelgroße Kuh? Hier sind sie aber groß, kräftig und meistens schwarz-weiß. Kaffeebraune gibt es auch. Eine Ziege vielleicht? Vertragen sich Ziegen mit Rehen? Keine Ahnung. Das Rudel bewegt sich. Synchron ziehen sie etwas weiter. Der weiße Fleck bewegt sich mit. Ich suche mein Smartphone, ich will ihn foto­grafieren, vielleicht schafft es mein Zoom, die Gruppe näherzuholen. Ich finde es nicht. Hinter mir nähert sich ein Auto – ich muss weiter.
Da ich ja immer schon viel Fantasie hatte, male ich mir die wildesten Dinge aus. Eine gutmütige Rehmutter hat tatsächlich eine verloren gegangene Ziege adoptiert. Ein Einhorn, ein junges, ist es leid, einsam durch das verwunschene Licht zu traben, und sucht Geselligkeit. Oder ein weißes Pony liebt das Rudel, weil es nun nicht mehr das kleinste Tier auf der Weide ist.
Zu Hause angekommen, holen mich ein paar Telefonanrufe zurück in die Wirklichkeit. Ich vergesse vorerst das weiße PonyZiegenKuhEinhorn. Aber jeden Abend aufs Neue, wenn die Schatten das schwindende Licht streicheln, muss ich an dieses eigenartige Bild denken: braune Flecken mit einem weißen Fleck dazwischen.
Abends fahre ich hier grundsätzlich langsam, zu viele Tiere wechseln vorm Schlafengehen noch schnell die Straßenseite, und immer wieder kommt es vor, dass sie plötzlich aus dem Gebüsch springen. Oder eine ganze Herde trabt gemächlich über die Straße und bleibt manchmal einfach stehen. Ich habe schon mehr als fünfzig Tiere gezählt, sie schauen ins Auto, sie rätseln, wer ich bin und wo ich herkomme, sie wenden sich mit einem sanften Nicken wieder ab. Ich nehme das als Verabschiedungsgruß und wünsche ihnen eine gute Nacht. Sie gehen weiter. Ohne Eile. Sie haben Zeit. Ich auch. Ich würde sie gerne einmal anfassen, über ihr samtbraunes glattes Fell streichen, sie zwischen den Ohren kraulen und ihre weiche Schnute mit Leckereien füttern. Ich sollte mal was im Auto bereithalten. Aber was? Ich werde es herausfinden.
Als ich an einem anderen Abend noch spät in meinem Strandkorb sitze, über mir der angeknabberte Mond mit seiner funkelnden Sternensippe, da nehme ich fern auf der Wiese gegenüber eine Bewegung wahr.
Ja, da sind Tiere mitten auf dem Feld. Viele dunkle Flecken, aber kein weißer. Ich ziehe enttäuscht die Luft ein.
Am folgenden Sonntag bei der Hochzeit von lieben Freunden sitzt mein Nachbar neben mir. Der ist Ureinwohner, ich bin hier nur eine Abundzuauftauchende. Es dauert noch mit dem Essen, und wir kommen ins Reden. Plötzlich höre ich, dass ein wunderbares Gerücht die Runde macht: Bauern, Förster und auch Jäger sollen ein weißes Reh gesichtet haben. Das ist mindestens so selten wie eine Schnecke mit sechs flinken Beinchen. Ich schlucke. Ich gehöre zu den Auserwählten, die dieses Wunder sehen durften. Ich beschließe auf der Stelle, dass es Glück bringt. Mindestens so viel wie das Sichten eines Einhorns. Ach, Unsinn, viel mehr. Einhörner sieht man doch an jeder Ecke und Kante, sogar auf Kopfkissen. Sogar in Rosa. Aber ein weißes Reh? Ist das nicht so etwas wie ein FastEinhornReh? – Ich fühle mich gerade sehr besonders, sehr geehrt und sehr magisch. Irgendwann wird es mir so nahe kommen, dass ich ihm meinen Namen sagen darf. Und es verrät mir seinen. Und schenkt mir drei Wünsche. Irgendwann bestimmt.