Brigitte Werner

Plötzlich ist alles anders

Nr 210 | Juni 2017

Immer hatte ich gedacht, dass mich im Alter die große Weisheit, eine unglaubliche Ge­lassen­heit und eine sanfte Milde sehr erhaben sein lassen würden. Du lieber Himmel, da lag ich aber voll daneben. Seit ich im Frühjahr über eine schlichte Bürgersteigkante wie ein gefällter Baum gestürzt war, wurde ich ein grantiges, altes Weib. Mein rechter Arm war dick wie ein Elefantenbein und mein linkes Knie beschloss zwei Wochen später, einfach mal für eine unbestimmte Zeit in Rente zu gehen.
Ich humpelte also durch die Gegend, fühlte mich zum ersten Mal so alt, wie ich tatsächlich war, und bekam einen Vorgeschmack auf eventuell nötige Pflege im «richtigen» Alter. Ich haderte mit allem – ich meckerte, motzte, grantelte herum, mochte keine und niemanden, selbst mit meinem Verlag, den ich sehr schätze, fing ich Stress an, und ich war am grantigsten mit mir selbst. Ich verzog mich an die Schlei, um mich von diesem bescheuerten «Missgeschick» und von all den superblöden Menschen um mich herum zu erholen. Ich murrte mich durch die stillen Tage dort, fühlte mich unverstanden, seltsam fremd in mir und sehr unruhig. Und dann geschah etwas, das mich tatsächlich wach «rüttelte». Ich saß in meinem Strandkorb und grummelte vor mich hin, als ich eine liebevolle Berührung spürte, sanft an den Schultern, und etwas sagte sehr klar in mir drin: «So willst du doch nicht wirklich sein. So bist du doch gar nicht.» Ich heulte so heftig los, dass die Schlei kleine Nebenarme bekam. Ich dankte dem Derdiedas und beschloss auf der Stelle, mit dem Grantigsein aufzuhören. Sofort ging es mir besser. Etwas sehr Liebevolles spürte ich um mich herum. Ich stand auf, packte meine Koffer und fuhr sofort nach Hause, wollte ich doch nun diese neue Sanftheit mit meinen Mitmenschen dort teilen. Auch waren ein paar Entschuldigungen fällig.
Zwei Tage später, es war ein Sonntag, beschloss ich, einen Kuchen zu backen, zum Kaffee einzuladen und einen schönen Nachmittag zu haben. Während ich alle Zutaten zusammensuchte, machte ich den Fernseher an. Das tue ich eigentlich nie an einem Vormittag. Und beim Kochen oder Backen lege ich meistens Musik auf, vielleicht Chet Baker oder Beth Hart. Ich schaute gar nicht hin, ich wollte nur Stimmen hören, aber natürlich blickte ich dann doch zum Bildschirm und sah einen sympathischen, grau gelockten älteren Herrn, der mir irgendwie bekannt vorkam und der sehr genau die Dinge sagte, die ich selbst schon oft gefühlt oder gedacht hatte. Und die keiner wusste. Ich wurde neugierig. Der Kuchen musste warten.
Dieser Herr sah mir lieb in die Augen und sagte: «Und dann kam der Moment, wo mir klar war, dass ich mich nicht leiden konnte. Ich war ein schrecklicher Typ.» Hä? Wer bist du? Dachte ich. Woher kennst du mein Leben? Da tauchte Dennis Scheck auf, er interviewte André Heller, mit großer Ehrfurcht, das war zu spüren. Ich war fassungslos. André Heller – nicht zu glauben. Ich war immer sehr beeindruckt von seinen Projekten, seinen wundersamen Gärten, dem zauberhaften Zirkus gewesen, aber ihn selbst fand ich schnöselig und ziemlich arrogant. Und dieses Wienerisch. Brrr! Jetzt hätte ich ihn sofort zum Kuchen eingeladen und liebend gerne mehr von ihm erfahren. Stundenlang.
Ein Seelenverwandter taucht sehr selten in einem Leben auf, und schon mal gar nicht im Bildschirm. Aber es war gerade passiert. Ich hing an seinen Lippen, ich erfuhr, dass auch er Schriftsteller ist (sag ich doch, Seelenverwandter), und sein neues Buch wurde von Dennis Scheck sehr gelobt.
Ich kaufte es am anderen Tag, es hat mich beglückt. Das Buch vom Süden* ist leidenschaftlich, verrückt, weise und ein Genuss. Gut, dass ich an diesem Sonntag auf Chet Baker verzichtet habe.