Brigitte Werner

Schattenorte

Nr 212 | August 2017

Es ist ein heißer Augusttag. Der schmale Weg mit Thymian und Rosmarin am staubigen Rand schlängelte sich den Berg hoch. Ich keuche, ich bin nass geschwitzt, aber nun, hier oben, mit der gewaltigen Aussicht über den Luberon, werde ich für alles entschädigt.
Hier spielt das Licht mit den Schatten der Pinien, und die Zikaden zerhacken die Zeit in winzige Teilchen. Die Zypressen zeigen stumm zu dem Ort, an dem die Toten gerne ankommen würden nach ihrer langen Reise durch die vielen Räume, die sie selbst erschaffen haben. Manche ausgeschmückt mit Farben und üppigen Ornamenten, erfüllt mit frohen Klängen oder mit Kargheit, Staub oder gar Unrat und Geseufze. Das alles erklärt mir in einem melodisch zerhackten Deutsch der junge, eifrige französische Pater des nahen Klosters. Ich nicke, sage oui, oui, weil mir dieses Bild gut gefällt und so stimmig erscheint, als er plötzlich innehält, den Finger auf den Mund legt und mit dem Kopf zur Seite zeigt.
Dort, etwas weiter, auf dem grellen Platz mit den alten Grabsteinen zwischen einzelnen Wacholdersträuchern, nähert sich eine sehr alte Frau, schwarz wie ein nächtlicher Schatten, einem Grab, das mir schon bei meinem letzten Besuch aufgefallen war. Bunte Plastikblumen umsäumen den Grabstein, der als einziger einen blühenden Oleanderbusch an seiner Seite hat. Seine Inschrift hat mich stark berührt: Sophie-Marie, steht dort, 7.6. – 2.8.1951.
Die weißhaarige kleine Frau holt aus den Tiefen ihres weiten langen Rockes eine Milchflasche mit Wasser. Sie gießt konzentriert und hingebungsvoll die karge Erde um den Strauch und zupft seine vertrockneten Blüten ab. Aus einer anderen Tasche nimmt sie eine kleine, struppige Zahnbürste und beginnt gebeugt, die Inschrift des Steins von Staub und Piniennadeln zu säubern.
Die Zeit sinkt in den Honig dieser schweren Luft und verharrt. Die Zikaden verstummen eine nach der anderen. Die alte Frau hält immer wieder inne, streicht sanft über die Inschrift, schlägt ein Kreuz, küsst die kleine Bürste und fährt fort.
Ich würde gerne zu ihr gehen und sie still umarmen. Ich fühle mich schuldig, dass ich ihr in diesem innigen, schmerzvollen Moment zuschaue, und will mich entfernen, doch Pater Guillaume hält mich fest. Er faltet meine Hände und lächelt. Er hat sanfte, alte Augen in seinem jungen Gesicht. Auch er faltet seine Hände und nickt mir zu. Ich gehe einen Schritt tiefer in den Schatten der Pinien und schließe die Augen. Gibt es ein Gebet des Trostes für diesen Schmerz? Ich finde keine Worte, nur Bilder, die mich finden: eine Wiege sehe ich, sie ist leer, einen Krug und einen Brotlaib auf einem alten Tisch, Vorhänge, die sich aufblähen, und Schatten, die durch ein verdunkeltes Zimmer huschen. Ich höre einen Singsang, der alle Herzkammern mit Licht durchflutet, ich scheine ihn zu kennen, ich schluchze und summe ihn mit. Ich kreise dabei in einem schweren Blau in mir selber. Dann falle ich in eine so plötzliche und mächtige Stille, dass ich erschrecke. Als ich die Augen öffne, ist der Grabplatz leer. Pater Guillaume sitzt hinter mir im Schatten, die Hände im Schoß, die Augen geschlossen.
Die Zeit besinnt sich – Piniennadeln fallen, im Tal brummt ein Motorrad, die Zikaden singen, und im Kloster wird das Abendessen vorbereitet. Die Erde dreht sich wieder. – Ein leichter Wind kommt auf.
Die Pinien schwanken ein wenig, und die Zypressen stechen Löcher in den Himmel. Ich weiß nun bestimmt, durch diese können die Angekommenen herunterschauen. Es sind viele. Kinder und Alte. Sie lächeln.