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Michelle Houts

Raureifzauber

Nr 216 | Dezember 2017

gelesen von Simone Lambert

Es ist Weihnachten. Glitzernder Raureif hat sich über die Winterlandschaft der dänischen Insel Lolland gelegt. Die zwölfjährige Bettina ist von dem seltenen Phänomen bezaubert. Sie erinnert sich, dass ihr verstorbener Großvater Farfar, den sie sehr vermisst, Raureif für etwas Magisches hielt.
Bettina sorgt allein für ihre einjährige Schwester Pia und für Haus, Hof und Stall, denn ihre Eltern mussten am Weihnachtsmorgen überraschend für ein paar Tage verreisen. Zwar ist sie mit der Arbeit vertraut, dennoch ist es eine große Ver­ant­wortung. Was Bettina nicht weiß, ist, dass eine versäumte Tradition den Frieden auf dem Hof gefährdet. Familie Larsen hat im Durcheinander am Weihnachtsabend vergessen, dem Stallwichtel seine Schüssel Reispudding hinzustellen. Klakke, so heißt der Stallwichtel auf dem Hof der Larsens, ist verstimmt.
Da der Glaube an Wichtel als Folklore gilt, misst niemand dieser kleinen Sitte große Bedeutung bei. Bettina weiß nicht, ob sie an Wichtel glauben soll, obwohl ihr Großvater fest von ihrer Existenz überzeugt war. Aber dann verschwindet die kleine Pia während ihres Mittagsschlafs. Bettina begibt sich auf der Suche nach ihrer Schwester in den Wald und in die Miniaturwelt der Wichtel. Sie stößt auf eine Wichtelfamilie, die ihr hilft, die kleine Schwester wiederzufinden. Und Bettina steht ihnen bei, als es gilt, eine alte Familienfehde beizulegen.
Raureifzauber von Michelle Houts ist ein modernes und zugleich zeitloses Wintermärchen über die Begegnung eines Menschenmädchens mit dem Volk der Wichtel. Die hilfreichen, kräftigen Kreaturen bewohnen der dänischen Folklore nach die Häuser, Scheunen und Wälder. Sie leben ihr Leben in der Nacht, unter der Erde, eng verbunden in ihren Familien, bescheiden und menschenverbunden. Kinder, die eine Faszination hegen für die entzückenden Details des Wichtelhaushalts, werden ihre Freude haben an den Tassen aus Haselnussschalen, den Hockern aus Walnüssen und den Strümpfen aus Distelwolle.
Wichtel werden Hunderte Jahre alt, sie kennen Geduld, haben Zeit. Für Bettina bedeutet diese Begegnung die Rückverbindung mit Farfar, der von der Existenz von Wichteln überzeugt war. Die Realität der magischen Welt, in der er noch immer hoch geschätzt wird, tröstet sie über den Verlust des Großvaters. Im geteilten Wissen um die Wichtel lebt er für sie weiter.
In einem ruhigen Erzähltempo, mit Gespür für sinnliche Details werden die Abenteuer wechselweise aus Bettinas Sicht und aus der von Klakke, dem Stallwichtel, erzählt. Der Raureif ist dabei ein Kunstgriff der Autorin, der die Atmosphäre von Wundern verstärkt und die Vorstellung von magischen Welten in Kindheit und Natur belebt. Ein feiner Humor durchzieht die Geschichte, den die liebevollen Zeichnungen der Stuttgarter Künstlerin Nina Schmidt treffsicher aufgreifen.
Bettina, die mit sehr erwachsenen Verantwortlichkeiten kämpft, schwingt in der Welt der Wichtel eine stille Ermutigung entgegen, sie gewinnt das Gefühl von Verbundenheit und Schutz zurück. Und als sie Pia wohlbehalten zurückbringt, hat sie auch eine «Reifeprüfung» bestanden.
Eine feinfühlige Entwicklungsgeschichte, die sich mit der Wichtelerzählung zu einem bezaubernden Weihnachtsmärchen verbindet.