Brigitte Werner

Mein innerer Leuchtturm

Nr 220 | April 2018

Sie war jung. Sie war schön. Sie hatte Liebreiz. Aber dieses Wort kannte ich damals noch gar nicht. Sie hatte eine unglaubliche Art, mich furchtlos und stark fühlen zu lassen. Und voller Vertrauen und Lebensfreude. Ich liebte sie. Wir alle liebten sie. Zum ersten Mal in meinem Leben, mit sechs Jahren, bekam ich einen Geschmack von Zukunft. So wollte ich auch werden. Genau so. Und genau dasselbe wollte ich machen: Ich wollte Lehrerin werden. Klingelte es mittags, und wir mussten mit unserem Schultornister auf dem Rücken nach Hause, so schrumpfte ich zurück auf meine Kleinheit. Ich fühlte mich wieder mickerig, ängstlich, schüchtern, ohne Worte. Aber ich hatte etwas erfunden, es war der Ort MONAROSADELLA. Das klang geheimnisvoll, das klang sanft, das klang nach Frieden und Schönheit. Dort wohnten meine Träume und meine Wörter, die ich sammelte und verwahrte und manchmal auch erfand. – Meine schöne Lehrerin war der erste Wendepunkt in meinem Leben. Ich erkannte, ohne es benennen zu können, dass es außer­halb der Wände unserer engen Wohnung, außerhalb meiner Angst eine paradiesische Fülle von Möglichkeiten gab, die ich irgendwann ent­decken und auskosten würde. Aber dann verschwand diese Lehrerin eines Tages aus meinem Leben. Wir Kinder haben nie erfahren, was geschehen war. Niemand erklärte es uns. Die nach­folgende Lehrerin war alt, sie war schrecklich, sie war ein brüllendes Ungeheuer, ihre Stimme tat weh, wir duckten uns und machten uns unsichtbar. Jeden Abend saß ich im Bett und stellte mir vor, ich wäre die Neue, ich liebte alle meine Schülerinnen und Schüler, ich erfand Geschichten für sie, ich gestaltete den Unterricht in meinem sieben­jährigen Kopf mit grandiosen Ideen und wusste mit großer Sicherheit, dass ich einmal eine Lehrerin sein würde, die Spaß hätte. Und die Spaß in die Schule bringen würde. Und so geschah es später.

Zehn Jahre unterrichtete ich voller Freude, aber irgendwann schlich sich auf kleinen, lautlosen Füßen etwas in diese Freude, was die Freude kleiner fraß. Es nagte in mir herum, und ich brannte nur noch mit halber Flamme. Ich kam diesem Prozess lange nicht auf die Schliche. Ich wusste nur, dass etwas nicht stimmte. Ich zog in eine WG mit lauter verrückten Typen, mit Künstlern und Studierenden der abenteuerlichsten Fächer. Allesamt Nachteulen – nur ich musste morgens pünktlich zur Schule. Eine Sehnsucht begann sich in mir auszubreiten: Ich wollte frei sein, ich wollte aussteigen aus dem ganzen Schulsystem mit seinen Vorschriften, verstaubten Lerninhalten, Verwaltungsstress und seinen strengen Beurteilungskriterien, die ich hasste. – Ich wollte aber meine Kinder nicht missen. Ich liebte sie. Und ich hatte Angst. Wovon sollte ich leben? Was genau wollte ich überhaupt tun?
Was konnte ich, außer Kinder mit Freude unterrichten? Aber dann fiel es mir an einem langen Spaziergang wie Sternschnuppen in meinen zermürbten Kopf. Ja doch, ich konnte erzählen, ich konnte schreiben, ich konnte kreativ sein in viele Richtungen. Und als ich dazu noch vertrauen konnte, war der Bann der Angst gebrochen. Ich wusste auf einmal sehr genau: Ich war an einem Ort in meinem Leben angekommen, der plötzlich an dieser breiten, mir vertrauten Straße einen verwunschenen Abzweig hatte, mit geheimnisvollen Kurven, die ich nicht einsehen konnte, mit wilden Gewächsen am Wegrand und fremden Gerüchen und verlockenden Stimmen. Ich träumte starke, symbolhafte Träume, in denen mir Bäume, Vögel und auch sanfte, klare Gewässer gut zuredeten: Wage es. Es wird sich alles finden.

Immer wieder, auch später in meinem Leben, tauchen bei Entscheidungsprozessen, die mein Leben ändern sollten, schon lange vorher diese Hinweise und Zeichen auf. Und immer gab es dann den absoluten Punkt der Klarheit: Das ist es. Genau das! Meine Wendepunkte waren dann stark und führend, wenn sich das Vertrauen, dass es richtig war, wie eine Schutzhülle um mich legte.
Und ich stieg tatsächlich aus, beendete das Beamtendasein. Und – wurde für verrückt erklärt. Aber ich schrieb. Ich schrieb in der Hoffnung, dass diese Geschichten, die ich meinen Kindern im Lauf meiner zehn Schuljahre erzählt hatte, sofort Bestseller würden und ich davon leben konnte. Nun ja, das war eine Seifenblase, aber sie schwebte und schillerte eine lange Zeit in meinem Leben. Bis sie platzte. Aber nicht meine Gewissheit, dass es irgendwann geschehen würde. Irgendwann später. Da würde es diese Bücher geben.
Vorher geschahen noch allerlei andere Verstrickungen, und es gab steile Kurven mit Schritten vor und zurück. Aber immer ohne Bedauern. Das Geld war meistens knapp, aber eigentlich hatte ich immer alles, was ich brauchte. Ich genoss die Freiheit, ich genoss, mich in alle Richtungen in meiner Kreativität austoben zu können. Und so machte ich plötzlich Kindertheater und schrieb. Ja, ich schrieb wieder – endlich. Ich schrieb alle die Stücke, die wir aufführten, und ich gab Kurse für Kinder. Ja, ich unterrichtete wieder, jetzt aber war es anders, ganz anders: keine Zensuren, kein unnötiger Ballast. Es war wundervoll. Das Theaterspielen, das ich mir niemals vorher in meinem Leben auch nur ansatzweise zugetraut hätte, wurde ein weiterer, abenteuerlicher Wendepunkt.

Ich war schüchtern, und vor Publikum erstarrte ich in meinem heftigen Gefühl, peinlich zu sein. Aber irgendwann wollte ich nicht mehr nur eine Figur in unserem Kindertheater sein, eine Hand- oder Stabpuppe oder ein Hund in einem Ganzkörperkostüm, in dem ich mich verstecken konnte. Ich wollte die Menschen zum Lachen bringen. Auge in Auge. Und so sprang ich ins kalte Wasser, ins eiskalte Wasser, aber eigentlich sprang ich auf die Bühne, und dort oben war ich plötzlich eine meiner selbst erfundenen Figuren, die schusselige Hexe Flora Sanella, oder Lilli Bazilli, die Monsterexpertin. Ich hatte meine komische Ader entdeckt. Und mein großes Vertrauen in mein Vertrauen: Wenn es sich richtig anfühlte, zuerst richtig im Herzen, dann folgte meist der Kopf, dann konnte ich es immer wagen. Und ich tat es.
Andere Wendepunkte kamen unverhofft, manchmal auch sehr dramatisch und schmerzhaft, Wendepunkte, die ich eigentlich gar nicht wollte; und auch wenn ich litt und am Rande einer steilen Klippe über tiefe, unergründliche Schluchten ging, war immer irgendwo in mir ein Ort, in dem die Zuversicht, das Vertrauen wohnte. Ein Ort wie ein kleiner Leuchtturm. Und ich wusste selbst in der Mitte der Nacht, dass mich dieses Licht leiten würde. Und so war es stets. Ich hatte viele Wendepunkte in meinem Leben, selbst gewählte, nicht gewollte. Immer, ja das kann ich aufrichtig sagen, gab es diesen kostbaren Moment der «Erleuchtung» mit all seinen Zeichen vorweg, dass alles gut ist. Dass ich es schaffe. Dass es genau das ist, was mich letztendlich zu der machen wird, die ich jetzt bin. Und zu dem Ort geführt hat, an dem ich jetzt bin. Ich habe eine Heimat, der ich vertraue. Und die bin ich selbst. Und wenn ich da herausfalle, muss ich mich wieder hineinschubsen. Manchmal mit Gewalt. Dabei hilft das Erinnern. Das Wissen, dass ich es kann. Das ist das Licht.