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Clemens Maria Heymkind

Quellen der Heilung – Bewegung

Nr 220 | April 2018

Zu Beginn, ich war etwa achtundzwanzig Jahre alt, war das Schreiben für mich ein bloßer Versuch, meinem Geist Ausdruck zu verleihen. Sehr bald empfand ich dann auch Freude am Schreiben – nicht zuletzt, weil ich seine heilende Wirkung wahrnahm. Damals hatte ich nur eine vage Vor­stellung von der Kraft eines berührenden Textes, von der hohen Kunst, Sprache lebendig werden zu lassen. Und in der Tat: Was gibt es für den Schreibenden Erfüllenderes als einen gelungenen Text, der der den Leser in die Welt bewegter Bilder zu führen und in der Tiefe seines Geistes zu berühren vermag! In diesem Sinne hat Schreiben – wie auch andere Formen der Kunst – sehr viel mit Wachstum zu tun, das den Geist reifen lässt und Lebensläufe auf weise Art zu ändern vermag.
Je mehr Versuche ich in diese Richtung unternahm, desto deutlicher verspürte ich ein zunehmendes Gefühl des Fließens und Sich-Verbindens mit der Welt und dem eigenen Schicksal. So wie das Wasser auf Hindernisse trifft und sie zu überwinden vermag, so halfen mir die Worte, die ich zu Papier brachte, mit jenen Hindernissen in Kontakt zu kommen, die mich unsichtbar an die dunklen Erinnerungen meiner Kindheit ketteten und die ich zu überwinden anstrebte. Jene Ketten galt es zu sprengen.
Und so begann ich vor etwa zwanzig Jahren, mein erstes Buch, Verloren im Niemandsland, die autobiografische Erzählung eines Heimkindes, zu schreiben. Es ist das Zeugnis eines zutiefst Gedemütigten, eines Heimatlosen! Zu dieser Zeit war mein Leben in eine Sackgasse geraten. Wieder einmal! Eines Nachts saß ich nach einem anstrengenden Therapietag in einer psychosomatischen Klinik vor einem leeren Stück Papier, zitternd den Stift in der Hand. Ich hatte schon Wochen zuvor das Bedürfnis verspürt, all die grausamen Ereignisse meiner «Scheißkindheit» niederzuschreiben. In jener schmerzerfüllten Nacht tat ich den ersten Schritt. Es dauerte nicht lang, da spürte ich die heilende Kraft des Schreibens in einer nie dagewesenen Intensität. Die Quelle sprudelte, das Wasser trat mit voller Kraft aus ihr hervor. Auch spürte ich mehr und mehr, wie die eiternden Seelenwunden in der Tiefe zu heilen begannen.
Aus heutiger Sicht kann ich sagen, dass ich im Schreibprozess meinem Schicksal in seiner eigentümlichen Sinnhaftigkeit ein ganzes Stück nähergekommen bin. Neben dem therapeutischen Prozess näherte ich mich auch Schritt für Schritt meinem «verwundeten Kind», welches ich bereits vor Jahrzehnten in meinen Seelenkeller verbannt hatte, während ich selbst es mir im Wohnzimmer gemütlich machte. Was für eine Selbsttäuschung! – Lange Zeit war ich taub gewesen, hörte nicht sein verzweifeltes Klopfen an der Kellerdecke.
Gewiss, ich hatte zuvor einige Versuche unternommen, mich meinem verwundeten Kind zu nähern. Mir fehlte jedoch der Bezug zu ihm, ein klares Bild. Auch verstand ich seine Sprache nicht. Dieses Suchbild des «Schattenkindes», dieses befreiende Gefühl der fortschreitenden Erlösung von den Ketten der Vergangenheit manifestierte sich vollständig, als ich 2016 eine langjährige Traumatherapie abschloss und mein zweites Buch, Schattenkind, vergiss mein nicht, vollendet hatte. In ihm beschreibe ich die verheerenden seelischen Auswirkungen meiner ersten zwölf Lebensjahre, vor allem aber die ersten Schritte der Heilung im Pestalozzi Kinderdorf in Wahlwies am Bodensee. Die heilende Kraft des Schreibens leistete zweifellos ihren Beitrag, um die Ketten der Vergangenheit zu sprengen, und ermöglichte neben dem thera­peutischen Prozess Heilung in der Tiefe.