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Tove Jansson

Altern mit Augenzwinkern

Nr 220 | April 2018

Ein Gästehaus in St. Petersburg, Florida, eine Handvoll Rentner in Erwartung des Unausweich­lichen. Ein Fundus an kräftig skizzierten Charakteren, überzeugend, skurril, jeder ein faszinierendes Original. Treffsicher und humorvoll erforscht Tove Jansson das Phänomen des Alterns.

Am Montag hatte ihr Sohn wieder geschrieben. Die Briefe lauteten jedes Mal ähnlich. Libanonna bekam Klavierunterricht, die Geschäfte hatten eine Krise durchgemacht und ihr Sohn war, was dies oder jenes betraf, zuversichtlich. Das Wetter war entweder so oder so, sie erwarteten Gäste, eine Konferenz, einen Feiertag … mit sehr herzlichen Grüßen, Dein Dich liebender, und immer an einem der ersten drei Tage im Monat abgeschickt. Mrs. Rubinstein wusste, dass ihre eigenen Briefe genau gleich waren, ekelerregend gleich.
Eines Tages, als ein kleiner Taifun­ableger ganz St. Petersburg ins Haus verbannte, bekam Mrs. Rubinstein plötzlich Lust und begann einen Brief an ihren Sohn.
«Geliebter Abrascha, mein schrecklicher Sohn», schrieb sie. «Wir sind uns sehr ähnlich, obwohl die Intelligenz im weiteren Sinne nicht an Dich überging, jedenfalls solltest Du nach einem langen, anstrengenden und aufmerksamen Leben in Gesellschaft Deiner Mutter dahintergekommen sein, dass ich banale Nachrichten mehr als Schweigen verabscheue und halbherzig unpersönliche Kommentare mir mehr zuwider sind als brutale Wahrheiten. Bist Du noch nie auf die Idee gekommen, dass diese Klavierstunden, diese geplanten Konferenzen, Ausflüge und Geschäftsessen mit einflussreichen Persönlichkeiten, so wie Du sie zu erwähnen pflegst, für mich nichts als Blätter im Wind sind, für mich, Deine Mutter, Rebecca Rubinstein?
Gib mir einen Beweis, dass meine Enkelin ein Genie ist, und nicht nur ein Lockenköpfchen, das die Gäste mit unin­teressanten Darbietungen quält. Schreibe klar und in deutlichen Ziffern, was Du geleistet hast, erzähle unverblümt, wen Du herein­gelegt hast und wer Dich betrogen hat, chaloshes, zeige mir keine angedeutete Sonntagsmalerei, sondern Farbe! Einflussreiche Persönlichkeiten, na so was! Wer, welche? Warum hast Du sie getroffen? Was hast Du Dir erhofft, und was ist dabei herausge­kommen? Hast Du keine Fantasie – und wenn Du sie hast, warum nutzt Du sie nicht? Warum redest Du nie von der Ehefrau, die ich, Deine Mutter, für Dich ausgesucht habe? Gibt es jemanden, der Dich so sehr ver­stehen und wertschätzen kann wie ich, Deine Mutter?
Es wird Dir unangenehm sein, es zu hören, aber kein Mensch auf Erden kann die Nuancen Deines Lebens, Deiner Versäumnisse und Erfolge so deutlich erkennen und so nachempfinden wie ich. Fällt es Dir schwer, das zu verzeihen? Habe ich Dir zu eindeutige Möglichkeiten geschenkt, kannst Du mir den Ertrag, den Dir meine Saat bringt, nicht verzeihen? Bist Du überhaupt ein Erfolg? Ich weiß nichts …
Denk Dir neue Worte aus, um Deine Sorge um meine Gesundheit auszudrücken, und reduziere Deine Adjektive auf ein Format, zu dem Du stehen kannst.
Mein geliebter Sohn, Sehnsucht ist eine seltene Gabe, dieser besondere Schmerz ist uns nicht zuteil geworden. Abrascha, bedenke, dass ich Eure Leben einst in dem Bewusstsein geformt habe, dass ich die Einzige bin, die Eure Richtung kennt. Warum darf ich nicht erfahren, wie Ihr Euch weiterentwickelt? Entwickelt Ihr Euch überhaupt?
Sholem! Schreibe mir nie, weil es der Tag für einen Brief ist! Deine Dich liebende Rebecca Rubinstein»

Sie las den Brief sorgfältig durch, fügte da und dort ein Komma ein, nickte anerkennend und zerriss ihn in möglichst kleine Fetzen.