In meinem Namen

Nr 221 | Mai 2018

Liebe Leserin, lieber Leser

«Es gibt nichts, was ich mit größerer Peinlichkeit zu erforschen und so sehr zu wissen verlangte als dies: Kann ich wohl Gott, den ich bei der Betrachtung des Weltalls geradezu mit Händen greife, auch in mir selbst finden?»
Am 15. Mai 1618 muss der Mathematiker der Weltgeheimnisse, Johannes Kepler, Gott – wie er einem uns unbekannten Adressaten brieflich mitgeteilt hatte – zum Greifen nah empfunden haben, denn es gelang ihm, das einige Tage vorher geahnte, nach ihm in der Folgezeit benannte, wunderbare Dritte Planetengesetz präzise zu formulieren: Die Quadrate der Umlaufzeiten zweier Planeten verhalten sich wie die dritten Potenzen ihrer mittleren Abstände von der Sonne. Weit schwieriger war für ihn die Suche, Gott «in mir selbst» zu finden.
Wenn mit «Gott» der schöpferische Quell des Lebens empfunden wird, dann wird auch erfühlbar, warum wir immer wieder die Nähe zur Kunst, zum Künstlerisch-Schöpferischen suchen. Drei «Bücher des Lebens» bittet Denis Scheck die Gäste seiner Literatursendung lesenswert mitzubringen, wie wir auch in unserem Gespräch in diesem Monat erfahren können. Ein solches «Buch des Lebens» für mich ist das Johannesevangelium. Woche für Woche begleitet mich ein Kapitel dieses in unzählig vielen Details künstlerisch komponierten Evangeliums, wobei ich die Kapitel so auf die Wochen lege, dass die Lektüre des letzten, 21. Kapitels, auf die Woche, die mit dem Weißen Sonntag beginnt, fällt, die Lektüre des vorletzten, 20. Kapitels, mit der Schilderung des Aufer­standenen am Ostermorgen zu Ostern beginnt, und so weiter zurück, sodass ich mit dem ersten Kapitel diesmal am Sonntag, den 19. November 2017 begann.
So kommt es, dass ich in der vierten Woche vor Ostern, als ich diese Zeilen zu schreiben habe, gerade das 16. Kapitel lese und darin wieder der Stelle begegne, die mich jedes Mal so rätselvoll umtreibt. Da heißt es in den Versen 23/24: «Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: So ihr den Vater etwas bitten werdet in meinem Namen, so wird er’s euch geben. Bisher habt ihr nichts gebeten in meinem Namen. Bittet, so werdet ihr nehmen, dass eure Freude vollkommen sei.» – Wie bitte ich in seinem Namen, dass mir wirklich gegeben werden kann? Was heißt überhaupt «in meinem Namen»? Wie viel könnten wir in der Welt zum Guten verwandeln, wenn wir dieses Bitten lernten? Vielleicht war die Himmelfahrt und die Aussendung des Heiligen Geistes zu Pfingsten deshalb notwendig: dass wir so bitten lernen.

Von Herzen grüßt Sie,
Ihr

Jean-Claude Lin