Doris Kleinau-Metzler

Aus den Augenwinkeln schauen …

Nr 221 | Mai 2018

Die Künstlerinnen Anny und Sibel Öztürk

Großinstallationen sind das bevorzugte Gebiet der beiden Künstlerinnen Anny und Sibel Öztürk. Laut Internet sind «Großinstallationen, wenn man beim Einsatz mehrerer Systeme Erweiterungen benötigt, um Dienste effizient und sicher anbieten zu können». Wohl der falsche Suchbegriff. Und klärt doch Grundsätzliches – denn effizient und sicher ist ihre Kunst nicht, sondern hinterfragend und verspielt. Wie die Licht-Installation «Say Say Say» im Rahmen der Luminale 2014 am Rathaus in Offenbach mit den riesigen leuchtenden Sprechblasen:

«HAST DU AUCH EINEN PLAN B?»
«UM AUF DIE ZUKUNFT HOFFEN ZU KÖNNEN, MÜSSEN WIR
HEUTE HANDELN»
«OH»
«MACH DAS LICHT AUS, WENN DU GEHST»
«DER REST IST SCHWEIGEN»

Irgendwoher kennen wir das doch …

Fragend und erzählend ist auch ihre Rauminstallation, 2003 beim Badischen Kunst­verein in Karlsruhe ausgestellt, in der sie das Wohnzimmer ihrer in Istanbul verstorbenen Tante nachbauten (deren Möbel verteilt und entsorgt wurden). Die Idee fasziniert mich sofort, persönliche Erinnerungen tauchen auf, meine Großmutter in der Küche … vielleicht auch die Trauer darüber, dass es nie wieder so sein wird ? oder die «Angst, Wesentliches zu vergessen» (Anny Öztürk). Verlorenes, das ein Wiederfinden lohnt. Die beiden Künstlerinnen legen eine Spur, mit der sie nicht (mehr) Gegenwärtiges konstruieren.
Aber warum Installationskunst, die orts- und situationsbezogen ist? Anny: «Es fing damit an, dass ich für mich selbst noch einen «Kick» brauchte, wenn mein Bild fertig an der Wand hing. Für Ausstellungen werden oft leere Räume zur Verfügung gestellt, das war wie ein Angebot. Damit dann der Raum als Gesamtes für uns stimmig wird, kann man sich nicht nur auf das Bild an der Wand fixieren, sondern muss alles immer wieder aus den Augenwinkeln sehen. Wenn man nur draufstarrt, entsteht nichts Gescheites …
Dieses Aus-den-Augenwinkeln-Schauen ist für unser Arbeiten elementar geworden.»
Ja, fixiere ich den Blick (oder mein Denken) auf etwas, blende ich dabei immer die Ränder und das Drumherum aus – sehe dafür aber jedes Detail genau. Im Hin und Her zwischen beiden Perspektiven, Nähe und Distanz, liegt die Kunst, nicht nur der beiden Künstlerinnen.

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Fotos: © Wolfgang Schmidt | www.wolfgang-schmidt-foto.de | Durch die Bildergalerie geht's per Klick auf die Klammern

Warum sind die Schwestern Künst­lerinnen geworden? Anny spricht gerade mit einem Kunden im Laden Marterie, im Zentrum von Offenbach am Main. Hier werden Möbel, Vasen, Design und Grafiken bedeutender Künstler des 20. Jahrhunderts angeboten («eher ein Hobby von uns»). Die ruhigere Sibel, fünf Jahre jünger als Anny, erzählt. «Für meine Schwester Anny war schon als Kind klar, dass sie Künstlerin wird. Sie hat immer gezeichnet und in ihrer eigenen Welt gelebt. Als ich alt genug dafür war, haben wir gemeinsam in unserem Zimmer eine Welt gebaut – dazu brauchten wir nicht mehr als ein paar Kissen, Decken und unser Bett. Das waren Orte, an die wir uns hingeträumt haben, da haben wir gespielt. – Nichts anderes machen wir heute. Wir bauen Räume und füllen sie mit unserer Gedankenwelt.»
Anny studierte als Erste an der Hochschule für Bildende Künste, der Städelschule in Frankfurt am Main, Sibel wollte eigentlich Archäologie studieren, war dann aber so oft bei Anny im Atelier, werkelte, erstellte Collagen, dass die Professorin irgendwann fragte, wann sie sich denn endlich auch anmelde.
Anny und Sibels Eltern unterstützten die Besonderheiten ihrer Töchter, «auch beim Drehen eines Filmes mit der Kleinbild­kamera hat unser Vater uns Kindern assistiert». So wie ihre Eltern, die in Istanbul als Journalisten gute gesicherte Stellen aufgaben, vor Jahrzehnten voll Neugier und Hoffnung von Istanbul nach Deutschland aufbrachen (ein Land, das der Vater wegen seiner Kultur und Ordnung schätzte, «die Gartenzäune haben ihn fasziniert …»), so haben die beiden Schwestern den Weg in die Kunst als Neuland gesucht. Gestaltend umkreisen sie immer wieder Sehnsucht und Licht, dieses Licht des Südens, das zugleich auch unserer inneren Sehnsucht zu entspringen scheint – jener nach Leichtigkeit, nach Freiheit.

Sehnsucht, die aktuell bleibt durch die gespaltene Realität des Alltags. Anny und Sibel Öztürk leben hier in Deutschland ? und sind zugleich der eigenen Herkunft aus der Türkei, der Sprache, der Kultur eng verbunden. Der nicht aufhebbare Zwiespalt gehört zu ihnen, ihrer Kunst. Istanbul ist die Heimat ihrer Eltern, aber «Eberbach, das ist meine Heimat», bemerkt Anny beiläufig. In Eberbach im Odenwald lebten die Eltern nach ihrer Auswanderung zuerst. Der Vermieter und die Nachbarn waren freundlich. Als Anny neun Jahre alt war, zog die Familie nach Offenbach. «Vorher wusste ich nicht, was ein Ausländer ist. Als ein Mädchen aus der neuen Klasse mein Poesiealbum mit der Bemerkung zurückgab, ‹für Ausländer schreibe ich nichts hinein›, fragte ich meine Eltern, was das sei. Und wollte das nicht sein, sondern wie alle Kinder dazugehören. Lange habe ich meiner Mutter verboten, mit mir auf der Straße Türkisch zu sprechen … Später wehrte ich mich gegen die Diskriminierung, zum Beispiel wenn meine Mutter einfach geduzt wurde, weil sie nicht perfekt Deutsch sprach.»

Offenbach ist ihr Zuhause geworden, auch wenn in der Bankenstadt Frankfurt manchmal über das schmuddelige Kellerkind die Nase gerümpft wird. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, Menschen aus 156 Nationen leben hier, deren Sehnsüchten sie mit Künstlerkollegen in dem Kunstprojekt «Länderboten» nachgingen. Der Alltag von Fremden ? die hier zu Hause sind? Wie lange muss man hier leben, um nicht mehr als Ausländer abgestempelt zu werden, fragt sich Anny. Vorge­fertigte Rollen sind Sackgassen. Die richtigen Fragen sind Wegweiser.
Doch die Welt ist für die beiden Künstlerinnen größer als Offenbach, größer als Deutschland. Manchmal sind sie weltweit unterwegs, wurden eingeladen mit ihren Installationen, die mitreisenden Kinder waren in den Museen zu Hause. Ein Höhepunkt für ihre Eltern war ihre Lichtinstallation Mehr Licht! in Brüssel aus Anlass der deutschen Ratspräsidentschaft der Europäischen Union 2007. «Sie kamen mit ihren Freunden mit Kleinbussen zur Ausstellungseröffnung und waren sehr stolz, dass wir zwei türkischen Mädchen eingeladen wurden, Deutschland zu repräsentieren.» Der Stachel des Nicht-Dazugehörens, der erfahrenen Ablehnung, hat Wunden hinterlassen, «aber Brüssel war auch ein neues Ankommen für die Eltern». Ankommen öffnet neue Wege. Kunst ent­wickelt sich auch aus Offen-Sein. Kunst hat keine Nationalität.

Die beiden Schwestern lachen, als ich im Gespräch versuche, ihre Namen vor jeder individuellen Aussage (für die Aufnahme) zu sagen, «es macht nichts, wer was sagt, ist egal. Wir teilen uns ja die Arbeit auf, das ist ein Prozess. Ich mache Skizzen, plane die Arbeit am Computer. Manchmal habe ich eine klare Vorstellung, aber Sibel will einfach basteln, zuweilen mit ganz komischen Hilfsmitteln und spontan. Es gibt Momente, da muss ich loslassen, obwohl ich meine eigene Idee viel besser finde.» Erstaunen – klappt das? Gibt es keine Konflikte? Sibel: «Mittlerweile sind wir geübt. Normalerweise sind Künstler sehr verletzbar in ihrer Arbeit, viele Künstlerpaare trennen sich. Wir haben Glück, dass wir Geschwister sind. Anny ist die Chefin, das muss man einfach akzeptieren.» Ein Augenzwinkern sehe ich nicht. Ja, Geschwister trainieren das Miteinander-Auskommen jahre­lang. «Unsere Hunde repräsentieren uns: Sibel hat einen großen bedächtigen Hund, der steht einfach ruhig da. Mein Hund ist ein Terrier, der hüpft und hüpft um ihren Hund herum. Dann macht der Große einmal ‹Wuff› und er ist erst mal ruhig. Ich sage zu Sibel: ‹Komm lass uns machen, ich habe eine Idee, schau mal, diese Skizzen …› Und Sibel sitzt da und sagt irgendwann: ‹Jaaaaa›.»
Irgendwie gehört noch jemand Drittes zu diesem besonderen Duo mit verschiedenen Stimmlagen, der Berliner Kunstgeschichtler, Sammler und Kurator Rafael von Uslar, «unsere Muse». Er ist künstlerischer Gesprächspartner und schreibt hintergründige Texte zu ihren Werken. Die griechische Göttin der Künste und Joseph Beuys’ sind Paten ihrer Türkisch-Deutsches verbindenden Nö Performance für zwei Frauenrollen im Treptower Park in Berlin: «Ja ja ja ja ? Nö nö nö nö» (angelehnt an Beuys Performance jajajaja neeneeneeneee). Das Ö, die türkische Sprache prägend, hier ist es zu Hause.