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Erna Sassen

Keine Form in die ich passe

Nr 221 | Mai 2018

gelesen von Simone Lambert

Dies ist ein Buch über Trauer und über den Weg, den sie sich bahnt. Ein Jahr nach dem abrupten Abbruch ihrer ersten Liebe erzählt die sechzehnjährige Tess ihre Geschichte. Ihr Tagebuch, das das Mädchen zwischen dem 15. Mai und dem 12. Juni verfasst, blickt zurück und spricht zugleich von heute. In fünf Kapiteln und neun Songs äußert sich Tess über das, womit sie auf ihre eigene Art und Weise fertig zu werden versucht.
Ihre Konfliktlage ist komplex. Tess, eine leistungsstarke und begabte Schülerin, ist in der Schule zurückgefallen, ihr Mentor diagnostiziert ein Burnout. Tess hat auch das Musikmachen mit ihrem besten Freund Kevin aufgegeben. Eine wichtige Hausaufgabe steht an, der Vorschlag ihrer Mutter ist es, eine CD zu machen. Die Rückkehr in den Schulalltag ängstigt Tess, weil sie den Anschluss verloren haben könnte. Fehler machen, das fällt ihr schwer. Vor der Kritik und den Zweifeln der anderen fällt sie in sich zusammen.
Tess ist mit großen Themen beschäftigt, mit Tod und Trauer. Sie kann nicht schweigen über den Schmerz, den jemand ertragen muss. In Evelien, die gerade ihre Tochter Sanne an Krebs verloren hat, findet sie ein mutiges Gegenüber, das seine Gefühle offen ausspricht. Evelien fordert das Mädchen heraus, fragt direkt und sagt ihre Meinung. Sie nimmt Tess in ihrer eigenen Trauer wahr. Denn in der Grauzone der Selbstverleugnung fand das Unglück einen Platz.
Es geht um die Liebe von Tess zu einem Lehrer, den sie P nennt. Für den Mittzwanziger, der gerade Vater wird, übernimmt sie Aufgaben als Regieassistentin des Unterstufentheaters. Seine Kabarettauftritte be­gleitet sie ebenfalls und auf den langen abendlichen Fahrten zu Auftrittsorten in den Niederlanden kommen sich beide näher.
Tess fühlte sich gut in seiner Nähe, ihre Grübe­leien hörten auf. In ihrer unbewussten Verliebtheit nimmt sie vor allem seine Sanftheit wahr, sein sonniges Wesen, das Unkomplizierte, das gemeinsame Interesse an Musik und Kabarett. Beiläufig schildert Tess Episoden, die den Leser erschrecken, weil die Ich-Erzählerin selbst nicht zu begreifen schien, dass da etwas aus dem Ruder lief. Sie erkannte nicht den «Vampir» in Ps verkappten, sexuell motivierten Annäherungen.
P steht für Parzival, den schönen, starken, selbstbezogenen Ritter. Tess nimmt in dem Egoisten eine Wärme wahr, die sich irgendwann in Verbindlichkeit und Mitgefühl wandeln kann. Genau hier, indem sie die Widersprüche wahrnimmt, entspringt auch ihr künstlerisches Potenzial.
Langsam entwickeln sich ihre Trauer und auch ihre Wut. Ein später Racheversuch mit hohem persönlichen Einsatz läuft aus dem Ruder, dennoch kann Tess das undurchsichtige Geschehen verwandeln und zu einem Teil ihrer persönlichen Geschichte machen.
Erna Sassens Roman zeigt eindringlich das Ausmaß von Trauer, das den Verlust einer tiefen Liebe begleitet. Trauer ist die kraftvollste Emotion, die wir als Menschen er­leben können, sie wehrt sich gegen nichts mehr. Tess lernt diese Kraft zu nutzen. Sie wagt nun, sich zu streiten und sich nicht mehr für ihre Gefühle zu schämen.
Das intensive Leseerlebnis klingt im Besonderen in Tess’ Witz, ihrer eigenwilligen Art, sich zu vermitteln, und ihren unkonven­tionellen Handlungen nach. Tess gelingt es, Situationen in ein neues Licht zu stellen. Sie ist eine Künstlerin. Und in ihren Liedern wird sie ihre Un­abhängigkeit erklären.