Maria A. Kafitz

Vom Suchen und Gefundenwerden

Nr 223 | Juli 2018

Zufallsbekanntschaft mit Erik Satie

Im Leben gibt es «Dinge», die man sucht – und solche, von denen man gefunden wird.
Zu den Letzteren kann ich jenen Musiker und Komponisten zählen, dessen Lebenslinie einen höchst verschlungenen, manchmal gar verworrenen Weg nahm. Zu mir kam er ganz unvermittelt. Einfach so. In einer Tüte, in der ich eigentlich etwas anderes – nämlich meinen regulären Einkauf – erwartet hatte. Doch statt der vermeintlich gekauften Klavierkonzerte von Sergej Rachmaninow, die ein Geburtstagsgeschenk für meinen Bruder werden sollten, fand ich zu Hause in jener Tüte eine hübsch aufgemachte CD mit Werken eines mir bis dahin völlig Unbekannten: Erik Satie.

«Es lebe die Neugier!» – rufe ich mir heute immer noch zu. Denn sie veranlasste mich, nicht gleich an einen Umtausch zu denken, sondern den Fremdling erst einmal kennenlernen zu wollen. Und was ich dann hörte, gehört bis heute mit zu den eindrücklichsten Klängen, die ich kenne und die auch in manchmal schweren Momenten meine Stimmung heben, erhellen und erleichtern.
Auch das Leben dieser «Zufallsbekanntschaft» war kein einfacher Tanz von Glück zum nächsten Freudentaumel – oft stolperte Satie auf seinem Weg, ab und an stellte er sich selbst ein Bein.
«Ich bin sehr jung auf eine sehr alte Welt gekommen», sagte der am 17. Mai 1866 als Sohn des französischen Versicherungsagenten und späteren Musikverlegers Jules-Alfred Satie und der Schottin Jane-Leslie Anton in Honfleur in der Normandie geborene Erik Alfred Leslie Satie im Rückblick auf sein Leben, das schon seit Kindertagen von Klavier­klängen begleitet war. An diesem Instrument bestand er 1879, angetrieben von der zweiten Frau seines Vaters, der Konzertpianistin, Komponistin und ehrgeizigen Musikpädagogin Eugénie Barnetche, auch die Aufnahmeprüfung am renommierten Pariser Conservatoire – verließ es jedoch bereits nach nicht einmal drei Jahren vorzeitig wieder.

Unangepasst wollte er sein – exzentrisch wurde er: «Nach einer ziemlich kurzen Jugend wurde ich ein ganz passabler junger Mann, nicht mehr. Es ist zu diesem Zeitpunkt meines Lebens, dass ich anfing, musikalisch zu denken und zu schreiben. Ja. Fatale Idee! … In der Tat, denn es blieb nicht lange aus, dass ich anfing, eine Originalität zu entwickeln, die missfiel … Dadurch wurde mein Leben derart unerträglich, dass ich beschloss, meine Tage in einem Elfenbeinturm zu verbringen.» Und für dieses Sein im Elfenbeinturm gab er sich selbst Regeln, die er 1913 in Der Tages­ablauf eines Musikers formulierte und dabei wohl in sich hineinlächelte, wie er es auf manchem der wenigen Fotos aus dieser Zeit tat:
«Der Künstler muss sein Leben genau einteilen. Hier der präzise Zeitplan meiner alltäglichen Verrichtungen.
Aufstehen: 7:18 Uhr.
Inspiriert: von 10:23 bis 11:47 Uhr.
Ich esse um 12:11 Uhr zu Mittag und ver­lasse die Tafel um 12:14 Uhr.
Ersprießlicher Austritt in den Tiefen meines Parks: 13:19 bis 14:53 Uhr.
Erneute Inspiration: von 15:12 bis 16:07 Uhr.
Diverse Beschäftigungen (Fechten, Sinnieren, Bewegungslosigkeit, Besuche, Betrachtungen, Geschicklichkeitsübungen, Schwimmen etc.): von 16:21 bis 18:47 Uhr.
Das Abendessen wird um 19:16 serviert und ist um 19:20 Uhr beendet.
Symphonische Lektüre, laut vorgetragen: von 20:09 bis 21:59 Uhr.
Regelmäßiges Zubettgehen um 22:37 Uhr. Einmal wöchentlich schreckhaftes Auffahren um 3:19 Uhr (dienstags).
Ich nehme nur weiße Nahrung zu mir …
Ich atme sorgfältig (wenn auch in kurzen Zügen).
Nur selten tanze ich …
Mein Arzt rät mir immer zum Rauchen. Seinen Ratschlägen fügt er hinzu: ‹Rauchen Sie, mein Freund, sonst raucht ein anderer an Ihrer Stelle.›»

Dass Satie den Elfenbeinturm und die nie besessenen Parkanlagen schon bald gegen die verrauchten Kneipen und Cafés im Pariser Künstlerbezirk Montmartre eintauschte, in denen er als Pianist aufspielte und als Philosoph fabulierte, ist weniger dem Rat seines fiktiven Arztes als vielmehr chronischer Geldnot geschuldet. Sein musikalisches Bemühen richtete sich in dieser Zeit gegen alles, was ihm vertraut und bekannt war. Jeder Tag sollte neu, sollte rein sein. Jeden Tag wollte er sich als Mensch, als Musiker neu erfinden. Er schrieb Stücke ohne Taktstriche und Notenschlüssel, fügte eigene Gedichte, Zeichnungen und «Anweisungen für den Interpreten» in seine Kompositionen ein, die eine ganz eigene Poesie haben:
«(Langsam) / Sehr leuchtend. / Fragen Sie. / Vom Rande der Gedanken aus. / Postulieren Sie in sich. / Schritt für Schritt. / Auf der Zunge.» (zu Gnossienne Nr. 1).
«Mit Verwunderung. / Weichen Sie nicht ab. / In großer Güte. / Noch inniger. / Mit leichter Innigkeit. / Ohne Hochmut.» (zu Gnossienne Nr. 2).
Er stellte einer Epoche der musikalischen Raffinesse, der ausgeklügelten Perfektion und Virtuosität etwas entgegen, das er unter dem Begriff «Neue Simplizität» zusammenfasste. Wer beispielsweise seine Trois Gymnopédies oder seine Gnossiennes gehört oder gar selbst gespielt hat, erlebt jedoch schnell, dass hiermit nicht «simpel» gemeint war.

Kaum etwas schien wirklich «einfach» für ihn, wenngleich sein Humor und seine charmante Ironie ihm über so manche Kontroverse hinweghalfen, sei es in der engen Freundschaft zu Claude Debussy, im Selbstzweifel an seiner Arbeit oder im Rückblick auf die für ihn zwiespältigen Erfolge, die er an der Seite von so illustren Größen wie Jean Cocteau, Pablo Picasso – mit ihnen schuf er das Ballett Parade – oder Francis Picabia feierte. Dass seine Kompositionen später in großen Filmklassikern, so u.a. in Louis Malles Le feu follet / Das Irrlicht, oder schmückend in Werbespots immer noch gegenwärtig sein werden, war am Ende seines Lebens näher an der Illusion als an der Wirklichkeit.
Als er im Alter von 59 Jahren am 1. Juli 1925 in Arcueil, einem kleinen Vorort von Paris, verarmt starb, waren die wenigen ihm gebliebenen Freunde schockiert und tief betroffen vom Zustand seiner winzigen Wohnung, die nie jemand hatte betreten dürfen. Eng, vollgestellt und einer staubigen Grabkammer gleich standen neben dem Bett zwei unbespielbare Klaviere übereinander, umringt von Kisten und Kästchen mit unzähligen kleinen Zeichnungen – Satie war auch hier überaus talentiert – und einem hohen Stapel ungeöffneter Briefe. Und es standen da 14 gleiche Regenschirme. Satie mochte die Sonne nicht sonderlich. Er liebte den Regen – und die ausgedehnten Spaziergänge, wenn es rhythmisch auf die Pflastersteine tropfte. Seinen schwarzen Schirm aber, ohne den er nie das Haus verließ, hielt er schützend unter seinen Mantel – ganz so, wie er sich selbst manchmal gerne vor der Welt und ihren Anforderungen verborgen hat.
Mir blieb er und seine Musik zum Glück nicht verborgen. Ich danke dem Verkäufer von damals noch heute, der mir Erik Satie in die Tüte packte. Mein Bruder hat Rachmaninow aber natürlich trotzdem bekommen.