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Christian Hillengaß

Julius Lester. Im Schreiben heilen

Nr 223 | Juli 2018

im memoriam

«Wir sind mehr als unsere Erinnerungen. Wir sind die Erinnerungen, die unsere Eltern und Großeltern über ihr Leben und ihre Eltern an uns weitergeben. Diese Er­innerungen prägen uns und geben unserem Leben eine Form, die es ohne sie niemals haben könnte. Aber was geschieht mit dem Leben und den Erinnerungen jener Menschen, an die sich unsere Eltern und Großeltern nicht erinnern, von denen sie nichts wissen? Und jenen unserer Vorfahren, deren Namen wir nicht einmal kennen? Könnten wir auch von Erinnerungen geprägt sein, an die sich niemand erinnert?»
In seinem Roman Im Gedächtnis der Zeit, aus dessen Prolog diese Zeilen stammen, taucht der Autor Julius Lester tief in jene Sphären ein, in denen die Zeit das Erinnerte und Unerinnerte aufbewahrt. Es ist ein Buch durch Generationen und Dimensionen, das von einem jungen Mann erzählt, der auf ungewöhnliche Weise auf einem Sklavenschiff nach Amerika gelangt, um einen spirituellen Auftrag zu erfüllen. Die Geschichte führt ihn und uns in manchen Abgrund des Leids und zeichnet das Schicksal der Sklaven eindrücklich nach. Immer aber spürt man durch die ernste und wissende Präsenz des Autors eine Art Halt, durch den die Hoffnung nie ganz verloren geht. Wie ein unsichtbarer Wächter steht er hinter der Handlung, die er uns in ruhiger, klarer Sprache und kraftvollen Bildern erzählt. Lester verwebt darin spirituelle Ereignisse auf eine Weise, die mit dem Unsichtbaren vertraut macht als wäre es sichtbar. Letztendlich schreibt er die Geschichte einer Heilung, die vielleicht auch in uns einen Schmerz lindert, von dem wir gar nicht wussten, dass wir ihn tragen. Es ist ein so erstaunliches Buch, dass es auf den Menschen neugierig macht, der es geschrieben hat.

Von einem Plattencover der Vanguard Records aus dem Jahr 1967 blickt ein junger Afro-Amerikaner. Kurzes krauses Haar, ein Kinnbart verstärkt sein spitz zulaufendes Gesicht. Ein wenig geduckt schaut er in die Kamera, sein Blick hinter einer Brille ist scheu, skeptisch und selbstbewusst zugleich. Das Foto zeigt Julius Lester auf seinem zweiten Album zur Zeit, als er sich als Folk- und Bluesmusiker einen Namen macht und in der schwarzen Bürgerrechtsbewegung aktiv ist.
Am 27. Januar 1939 in St. Louis, Missouri, als Sohn eines Methodistenpriesters geboren, wuchs er unter den Gesetzen der Rassentrennung auf. Sie hinterließen Narben, die in seinen Texten immer wieder sichtbar werden. Über vierzig Bücher hat er veröffentlicht, einen Großteil davon für Kinder und Jugendliche. Hinzu kommen die wissenschaftlichen Publikationen, die er in seiner zweiundreißigjährigen Laufbahn als Professor für Literatur, Nahoststudien und Geschichte geschrieben hat. Auch ein fotografisches Werk existiert von ihm, das das «alte» Amerika der Schwarzen dokumentiert, aber auch Fidel Castro in Cuba oder die Folgen des Krieges in Nordvietnam zeigt.
1981 hat Lester eine Vision, in der er sich als Jude sieht – mit einer Kippa auf dem Kopf, tanzend und von einer unglaublichen Freude erfüllt. Ein Jahr später konvertiert er zum Judentum. Vielleicht wirkten hier jene Erinnerungsfäden, die durch Generationen hinweg verlaufen – sein Urgroßvater nämlich war ein deutscher Jude. Es war vielleicht aber auch ein Schritt auf seiner spirituellen Reise, hin zu einem besonderen Ort: «There is a place of sacred truth in each of us. It is from within that place I seek to write and it is to that place in you my words seek to go», schrieb er einmal: «Es gibt einen Ort der heiligen Wahrheit in jedem von uns. Von diesem Ort aus möchte ich schreiben, und zu diesem Ort in dir versuchen meine Worte zu gelangen.» – Im Gedächtnis der Zeit,* sein bis dato einziges auf Deutsch erschienenes Buch, lässt dies spürbar werden.
Am 18. Januar 2018 ist Julius Lester im Alter von 78 Jahren gestorben – doch wir erinnern uns an ihn.