Christa Ludwig

Die Sprache, die niemand spricht

Nr 224 | August 2018

Dies ist die Sprache der Besonderheiten. Niemand kann sie sprechen, es wird mehr um sie gestritten, als in ihr gestritten wird, und sie hat eine Dimension mehr als andere – sie ist dreidimensional. Denn sie ereignet sich im Raum. In ihrem Buch Der Schrei der Möwe nennt die gehörlose Schauspielerin Emmanuele Laborit (im Film Jenseits der Stille spielt sie die Mutter) ihre Sprache: «Wörtertanz im Raum.»
1771 entstand in Paris eine Schule für Gehörlose. Laurent Clerc kam zwölfjährig an diese Schule, ein paar Jahre mühte er sich verzweifelt zu sprechen, genau zu artikulieren, was er doch nicht hören konnte. Dann gab er zornig auf, er hatte dort jene andere Sprache gelernt, die seine Muttersprache wurde, wenn sie auch nicht die seiner Mutter war. Clerc ging nach Amerika und half, dort ein Zentrum für Gehörlose aufzubauen, es entstand auch eine Universität, in der Gebärdensprache Unterrichtssprache war – und ist. Und dies ist auch der Grund, weshalb die American Sign Language der französischen Gebärdensprache sehr ähnlich ist, der in England gebräuchlichen jedoch nicht.
Gebärdensprache ist eine Körper­sprache, Arme, Hände, Finger tragen sie zum großen Teil, aber nicht ausschließlich, auch Körper und Gesicht geben Inhalt und Ausdruck. Man kann diese Sprache also nicht teilnahmslos dahinnuscheln – immer ist der gesamte Mensch beteiligt mit Haltung und Mimik.
«Kann man», fragte ich eine Gebärdensprachdolmetscherin, «in der Gebärdensprache überhaupt lügen?» Sie zögerte mit der Antwort, sagte dann langsam: «Man kann, aber es ist sehr schwer.»
Warum aber wird um diese Sprache so viel gestritten? Weil zahlreiche Vertreter der Gehörlosenpädagogik (fast ausschließlich Hörende) die Ansicht vertreten, dass Gehörlose isoliert werden, wenn sie diese Sprache lernen, dass ihre Intelligenzentwicklung behindert würde, da die Kommunikation durch Gebärden eine «primitive Vorsprachlichkeit» sei.
Ich kann diese Argumentation überhaupt nicht verstehen. Gebärdensprache verfügt über eine eigene Grammatik und Ästhetik. Welche Bereicherung, welch faszinierend neue Erfahrung wird dadurch in die Landschaft der Sprachen gebracht! Als ich für mein Buch Blitz ohne Donner,* in dessen Mittel­punkt ein gehörloser Junge steht, eineinhalb Jahre recherchierte, entdeckte ich dieses sprachliche Kleinod, das heute durch Internet und YouTube jedem zugänglich ist. Es gibt Filme über Gebärdensprachkünstler, die Gedichte präsentieren, es gibt Poetry Slams, Theater und «Gesang» – ohne Laute tanzen die Wörter im Raum. Ich habe mit meinem Buch mehrere Lesungen vor zum Teil gehörlosen Publikum gemacht, begleitet von Simultanübersetzern in Gebärden­sprache. «Bitte sprechen Sie langsam», bat mich die Dolmetscherin in Hannover, «Gebärdensprache hat meist ein anderes Tempo.» Lesend und vortragend hielt ich immer ein Auge auf die Übersetzerin, und da ich natürlich viele Worte der Gebärdensprache gelernt hatte, konnte ich mich anpassen, wir waren vollkommen synchron. Es war ein Pas de deux von Worten aus Klang und Bewegung in vollkommener Harmonie.
Und wie alle Sprachen lebt auch die Gebärdensprache durch Abweichungen, mehr oder weniger kleinen Veränderungen: es gibt Dialekte. Ein kleines Beispiel sei hier das Wort «Sonntag» im oberschwäbischen und im Berliner Dialekt, das die Fotos oben zeigen. Welches wohl die «Berliner Version» ist …?