Uschi Groß

Die Strahlkraft der Kunst

Nr 225 | September 2018

Oder wie kulturelle Bildung Kinder und Jugendliche stark macht

«Boah, das war aufregend. Ich musste sogar die Augen zumachen. Das war sooo gefährlich!» Der Erstklässler aus der Hambuger Rönnkamp Grundschule ist noch ganz aufgeregt, wenn er erzählt, was er gerade erlebt hat. «Sooo gefährlich» war es beim Auftritt der Zirkus- und Theatergruppe Phare Ponleu Selpak aus Kambodscha. Auf einem rollenden Turm aus Röhren, Würfeln und Platten balanciert Akrobat Pui Pheayin. Trommelwirbel begleiten ihn. Eine Welle des Raunens und erregtes Flüstern gehen durch die voll besetzte Aula, als Tho Sovann seine Saltos springt. Wildes Klatschen der sechs- bis zehnjährigen Kinder, als er zielsicher wieder auf den Schultern seiner zwei Kollegen landet. Mit großen Augen hängen vor allem die Mädchen an den Bewegungen der Bodenartistinnen Vorn Sreyneang und Nem Theara, die locker ihre Beine über die Schulter nach vorne ziehen und sich dabei auch noch ineinander verschlingen. Das kennen die Kinder bisher nur aus den ganz großen Zirkusshows im Fernsehen.
Die sieben Artistinnen und Artisten mit den exotisch klingenden Namen sind zwischen 15 und 20 Jahre alt. Sie und ihr Leiter Sam Sarry sind auf Einladung der KinderKulturKarawane mit dem Zirkus­theater­stück Der Marktplatz zwei Monate in Deutschland unterwegs.
Die KinderKulturKarawane? Sie entstand 1999 als ein Gemeinschaftsprojekt mehrerer Gruppierungen aus der Eine-Welt- und Nachhaltigkeitsbe­wegung. Seither hat die Organisation ein beeindruckendes soziokulturelles Netzwerk mit Jugendkulturgruppen aus Ländern Afrikas, Lateinamerikas und Asiens aufgebaut. Ziel ist es, dort die Lebensbedingungen von Kindern und Jugend­lichen durch kulturelle Bildung zu verbessern. Dafür lädt die KinderKulturKarawane jedes Jahr fünf bis sieben Gruppen junger Künstler­innen und Künstler aus Theater, Zirkus, Musik und Tanz nach Deutschland ein und schafft «Eine Bühne für die Jugend der Welt». Teresa Majewski ist seit gut zehn Jahren beim Projekt – anfangs als Tourbegleiterin für die jungen Gäste aus aller Welt, seit 2012 als eine der Koordinatorinnen im Büro der KinderKulturKarawane in Hamburg. «Wir schauen uns alle Gruppen an, die sich bei uns be­werben. Wichtig ist uns, dass ein soziokultureller Ansatz dahintersteht, der den jungen Menschen Perspektiven bietet und Bildungschancen eröffnet.» Für ihre Arbeit bekam die KinderKulturKarawane bereits viele Preise und war von 2005 bis 2014 das offizielle Projekt der UN-Weltdekade «Bildung für nachhal­tiges Lernen». Seit ihrem Bestehen wurden schon mehr als 60 Gruppen nach Deutschland eingeladen.

Phare Ponleu Selpak aus Battambang, der zweitgrößten Stadt Kambodschas, ist eine der ausgewählten Gruppen und dieses Jahr das dritte Mal dabei. Der Name bedeutet so viel wie «Die Strahlkraft der Kunst» und ist Programm: Kostenfreie Angebote und Aus­bildungen in den Bereichen Zirkus, Theater, Musik und Tanz ermöglichen jungen Menschen, ihre kreativen Potenziale zu entdecken und zu entwickeln. Zugleich bekommen sie Zugang zu Schulbildung und sozialer Unterstützung. Die Kreativklassen sind einer öffentlichen Grundschule und einer weiterführenden Schule für insgesamt 1000 Schüler angegliedert. Begonnen hat alles 1986 in Flüchtlingscamps an der thailändischen Grenze. Mit Malkursen halfen junge Menschen aus Kambodscha von Bürgerkrieg und Flucht traumatisierten Kindern und Jugendlichen, ihre Erlebnisse zu verarbeiten. 1994 wurde Phare Ponleu Selpak offiziell gegründet und als Nichtregierungsorganisation anerkannt. Mittlerweile steht ein großes Zirkuszelt der Schule nahe der viel besuchten Tempelanlagen in Angkor Wat.
Kambodscha gehört zwar noch immer zu den armen Ländern der Welt (Platz 143, Human Development Index / HDI), und auch die Kinder und Familien in Battambang kämpfen weiterhin mit vielen sozialen Problemen – aber heute ziehen die Schülerinnen und Schüler von Phare selbstbewusst in die Welt und zeigen stolz ihre Kunstfertigkeiten. Mit dem Ansatz der peer-education, dem Lernen von und mit Gleichaltrigen, machen sie ihrem jungen Publikum Mut, sich ebenfalls etwas zu(zu)trauen. Zum Konzept der KinderKultur­Karawane gehören deshalb neben den Auf­tritten der Gruppen auch begleitende Workshops.

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Fotos: © Wolfgang Schmidt | www.wolfgang-schmidt-foto.de | Durch die Bildergalerie geht's per Klick auf die Klammern

Die Rechnung geht auf. Auch bei den Kindern der Grundschule in Hamburg Burg­wedel: Mit Begeisterung und größter Auf­merksamkeit machen sie bei den Angeboten mit. Eine Gruppe von 15 Schülerinnen hat sich um Sreyneang und Theara versammelt. Ohne Worte verstehen es die beiden Artis­tinnen, die Mädchen weitere 45 Minuten in ihren Bann zu ziehen. Sie motivieren sie zu ungewohnten Körperhaltungen und verschaffen ihnen in kürzester Zeit sogar kleine akrobatische Erfolgserlebnisse.
Wie im Flug vergeht die Zeit. Es sind diese ganz besonderen Begegnungen, bei denen sich die jungen Menschen gegenseitig schätzen lernen, die neugierig machen auf Menschen aus anderen Ländern und auf ihre Kulturen. «Schon beim ersten Zusammen­treffen mit den jungen Künstlerinnen und Künstlern entsteht eine eigene Dynamik. Die weitgereisten Kinder und Jugendlichen sind selbstbewusst, sie sind mutig und sie wissen um ihre Talente. Das überträgt sich. Dadurch werden sie als tolle Lehrer wahrgenommen und nicht mehr als ‹die Fremden› aus fernen Kontinenten, die im Fernsehen immer als arm erscheinen. Im Gegenteil: Sie sind die Stars!», ist sich die 33-jährige Koordinatorin sicher.
Die Begegnung der jungen Leute aus so unterschiedlichen Lebenswelten soll auf Augenhöhe stattfinden. Die KinderKulturKarawane legt deshalb großen Wert auf die künstlerische Qualität der eingeladenen Gruppen, auf einen «ehrlichen Applaus». Wichtig ist es den Initiatoren auch, Projekte über längere Zeit zu unterstützen und deren Entwicklung zu verfolgen. «Das Schöne ist, dass immer andere junge Menschen mit­kommen können. Und die, die zu Beginn als Jugendliche mitkamen, sind heute häufig als Trainer dabei, wie zum Beispiel Sam Sarry, der Trainer der kambodschanischen Gäste», erzählt Teresa Majewski.

Viele aus dem Phare-Ensemble möchten später einmal von ihrer Kunst leben. Ein großes Vorbild ist der Bruder von Theara. Er hat es sogar bis zum Cirque de Soleil geschafft. Auch Puch Sreynut, die das Khmer-Xylophon spielt, träumt davon, Berufsmusikerin zu werden. Sreyneang dagegen möchte gerne Polizistin werden, und der Salto- und Diabolo-Künstler Sovann hofft, sich mit dem Geld, das er im Zirkus verdient, ein Studium finanzieren zu können. Gerne wäre er später Arzt oder Lehrer. Fürs Erste werden sie jedoch alle ihre Talente weiterentwickeln und parallel ihren Highschool-Abschluss machen.
Ein weiterer, sehr wichtiger Mosaikstein im Konzept der KinderKulturKarawane sind die Partner in Deutschland, die den Aufenthalt der jungen Artistinnen und Artisten durch die Buchung von Auftritten und Workshops überhaupt erst ermöglichen. Sie sind ein unverzichtbarer Schatz, denn sie gestalten die Begegnungsmöglichkeiten vor Ort und sorgen zudem für die Unterbringung in Gastfamilien. Zum breit aufgestellten Unter­stützernetz gehören Schulen, Festivals, Jugendzentren, Eine-Welt-Läden, Kulturvereine und viele mehr. Das Büro in Hamburg koordiniert die Aktivitäten und ist Ansprechpartner für alle Interessierten.

Neben der kambodschanischen Gruppe touren in diesem Jahr junge Künstlerinnen und Künstler aus Ghana, Tansania, Südafrika, Peru und Argentinien quer durch Deutschland. Die vier letztgenannten Gruppen sind bis Ende Oktober unterwegs. Wer bis dahin keine Gelegenheit hatte, ihre Fertigkeiten zu bestaunen, kann dies noch beim großen Finale am 2. November in Hamburg tun. Und 2019 wird die KinderKulturKarawane mit ihrem so lebensfrohen und bunten kulturellen Engagement für Kinder und Jugendliche 20 Jahre alt. An vielen Orten in Deutschland und in der Welt gibt es Kinder und «ehemalige» Kinder, die von den Begegnungen aus diesen zurückliegenden Jahren zehren und eine gute Portion Stärke für ihren Lebensweg mitbekommen haben. Es gibt immer noch viel zu tun, aber es gibt auch viel zu feiern, denn die Strahlkraft der Kunst ist stark!