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Rodney Bennett

Adlerjunge

Nr 225 | September 2018

gelesen von Simone Lambert

In einem Dorf irgendwo in Europa in unbestimmter mittelalterlicher Zeit wird ein Junge, stumm und mit einem Klumpfuß geboren, zum Sündenbock gemacht für die Notlage der Dörfler: das Kind Stephan sei des Teufels. Um das Leben seines Sohnes zu retten, verstecken der Holzfäller und dessen Freund Petr, der Müller, den Achtjährigen in den Bergen in einer Höhle und behaupten vor den Abgesandten des Grafen, das Kind sei von einem großen fliegenden Wesen geraubt worden. Dass diese Notlüge geradezu eine Prophezeiung ist, können sie nicht ahnen.
Zwar bringt der Vater dem Kind wöchentlich Essen, doch in seiner Verlassenheit bricht etwas in Stephan. Ohne An­sprache, ohne Heim, ohne Schutz wird sein sprachloses Wesen zum Tier – er verliert die Erinnerungen. Eines Tages, mitten im Spiel, wird er von einem Adler ergriffen und in dessen Horst gebracht. Angst, Kälte und Ekel setzen dem Kind zu. Dann entwickelt er Zuneigung zu dem strengen, stolzen Vogel, der sich fürsorglich und beschützend zeigt.
Vor allem aber ist Stephan überwältigt vom Fliegen: von der Aufhebung der Schwerkraft, der atemberaubenden Perspektive und der unfassbaren Stärke des Adlers, der ihn trägt. Der einst als Krüppel Verspottete bewegt sich im Flug ungehindert und frei.
Über Jahre wächst eine enge, prägende Bindung zwischen dem Kind und dem ihn adoptierenden Raubvogel. Schließlich lässt ihn der Adler zurück, Stephan ist zu schwer geworden. Wieder erlebt er einen Verlust, wieder muss er sich neu für das Weiterleben entscheiden.
Ein Einsiedler nimmt ihn auf, bringt ihm das Sprechen bei, unterrichtet und erzieht ihn. Ihn, Bartholomäus, nennt Stephan, der seinen Namen nicht kennt und hier Johannes gerufen wird, schließlich seinen Vater. Eines Tages bricht ein Wanderer im Schnee vor der Hütte zusammen. Petr ist der Gerettete und er erkennt in dem Jungen das Kind seines Freundes. Die beiden kehren schließlich in die alte Heimat zurück, gerade als Aufständische auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden sollen. In einem dramatischen Finale bricht sich das Gesetz der Wandlung durch Stephans kriegerisches Wesen Bahn …

Dies ist die Geschichte eines außergewöhnlichen Schicksals, das sich in einer Welt abspielt, in der Hass, Gier und Furcht das Handeln bestimmen. Rodney Bennett hat sagenähnliche Motive und christliche Ideen zu einem faszinierenden Stoff verwoben. Zwei Wege und damit zwei Handlungsmöglichkeiten stehen hier gleichwertig neben­einander. Petr ist ein kluger, vernunftbetonter Mann, der versteht, dass der despotische Feudal­herr für die Armut und Ausbeutung der Menschen verantwortlich ist und dass die Kirche sich zum Handlanger der Macht erniedrigt. Er denkt und handelt sozial und politisch; seine Person vertritt den Weg der Aufklärung, um die Lage der Dorfbewohner gemeinsam zu verbessern. Stephan dagegen wird, emotionsgetrieben, vom Opfer zum Werkzeug des Widerstands. Er macht sich dabei schuldig. Der Tod des Adlers am Ende zeigt, dass dieser Weg nicht fortgeführt werden kann. Stephan entscheidet sich für die Einsamkeit, verlässt seine Eltern und kehrt zum Einsiedler zurück. Sein Zukunftsweg ist ein seelischer.
Abenteuer und Spiritualität verbinden sich in diesem Roman und lassen den Leser mit zutiefst menschlichen Fragen nach Glück und Gerechtigkeit zurück. Eindrucksvoll.