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Monika Kiel-Hinrichsen

Familie im Fokus XI

Nr 227 | November 2018

Patchwork-Familienleben

Anne hat sich für heute endlich die letzten Um­zugskisten vorgenommen. Seit drei Monaten lebt sie mit ihren Kindern Mieke, 9, und Frida, 6, und ihrem neuen Partner Lars zusammen in einer 4 1/2-Zimmeraltbau­wohnung. Seitdem ist nichts mehr wie früher! Entschieden dazu haben sie sich, als klar war, dass Anne schwanger ist. Jetzt sind es nur noch 6 Wochen bis zur Geburt ihres gemeinsamen Kindes Elias.
Lars und Anne war nicht klar, welch einer großen Herausforderung sie sich damit stellen würden. Eigentlich weiß Anne gar nicht, wo sie die letzten Dinge überhaupt noch verstauen soll, denn jede kleinste Ecke in der Wohnung ist ausgefüllt. Morgen kommen Jonas und Leoni, die Kinder von Lars, wieder zu ihnen. Sie leben im Wechsel eine Woche bei der Mutter und eine bei ihnen, wo sie gemeinsam ein Zimmer bewohnen.
Anne hält schützend mit der Hand ihren prallen Bauch und sehnt sich nach der ruhigen Zeit mit Mieke und Frida zurück. Gerade gestern hatte sie mit Lars wieder eine Diskussion wegen ihrer unterschied­lichen Erziehungsansätze. «Jonas sitzt mit seinen 10 Jahren viel zu lange vor dem PC und verführt Mieke ebenfalls dazu», beklagte sich Anne. In solchen Momenten stehen sie sich plötzlich wie Fremde gegenüber, als müsse jeder einen anderen Staat verteidigen. Für Anne sind diese Wechselzeiten belastend, denn wenn sie kleine gemeinsame Gewohnheiten entwickelt haben, verabschieden sich die Kinder von Lars schon wieder. Mieke und Frida hingegen leben immer bei ihnen. Sie sind aufgrund der Wohnortentfernung des Vaters nur einmal im Monat bei ihm, verbringen dafür aber längere Ferienzeiten miteinander.
Lars wünscht sich oft mehr Zeit nur mit Anne und muss aufpassen, dass er nicht ungerecht ihren Kindern gegenüber wird. «Deine Kinder belagern dich viel zu sehr», kontert er, wenn Anne zu viel an seinen
herumkritisiert. Überhaupt fällt es ihm schwer, nicht in die Erziehung von Mieke und Frida einzugreifen – und es fällt ihm schwer, eine Beziehung zu ihnen aufzubauen. Besonders wenn sie vom Vater kommen, hat er keine Chance bei ihnen. Aber bei seinen Kindern und Anne ist es nicht anders, zumal seine Ex-Frau zusätzlich eifer­süchtig auf die neue Familiengründung reagiert. Gut, dass es seinen besten Freund
Lothar gibt, mit dem sich auch Anne sehr gut versteht! Der ist ein «alter Hase» in Bezug auf Patchworkfamilien. Anne und er haben sich bereits des Öfteren Hilfe bei ihm geholt.
«Ihr müsst erst für eine gute Beziehung zu den nicht leiblichen Kindern sorgen, wenn ihr miterziehen wollt.» Beziehung vor Erziehung ist eine seiner eindeutigen Empfehlungen. «Und gebt euch allen mitein­ander ausreichend Zeit, schraubt eure Erwartungen herunter, denn diese sind hinderlich beim Entwickeln von Beziehungen. Ein Patchwork-Familienleben hat seine ganz eigene Gesetzmäßigkeit!»
Als wäre das nicht alles schon genug, kommen bei Anne auch noch Existenzängste hinzu. Sie fühlt sich durch die Schwangerschaft unselbstständiger und plötzlich ab­hängig von Lars. Er kann sie gut verstehen, ging es ihm in den Jahren seiner dreijährigen Familienzeit in der ersten Ehe nicht anders. Er hofft, dass Anne mit der Geburt von Elias wieder an Sicherheit gewinnen wird und sie sich mehr als Familie fühlen werden.
Im Grunde sind die beiden hoffnungsfroh, denn neben all den «Konfliktschau­plätzen» gibt es immer wieder auch tief berührende Momente mit ihren Patchwork-Kindern. Beispielsweise, wenn Frida und Leoni sich unbeobachtet über ihre Vorfreude aufs gemeinsame Geschwisterchen austauschen oder Mieke und Jonas zusammen einen Rap einüben. Und manchmal auch, wenn alle einen Bettentausch vor­nehmen. Dann fühlen sie sich für kurze Momente wie eine «richtige Familie».