Das richtige Licht

Nr 228 | Dezember 2018

Neulich, auf einem Flug nach London, freute ich mich über eine Stunde Abgeschiedenheit mit einem Roman, den ich gerne zu Ende lesen wollte. Ich war unterwegs zu meinem Bruder und meinen drei Halbschwestern in die Stadt unserer Geburt. Nach mehr als vierzig Jahren richtete das Auktionshaus Bonhams in London auf britischem Boden wieder eine Ausstellung von Bildern unseres Vaters Richard Lin beziehungsweise Lin Show-Yu, wie er mit chinesischem Namen genannt wird, aus. Am 31. Januar 1933 war er in Taichung in Taiwan auf die Welt gekommen. Am eben anbrechenden 31. Dezember 2011 starb er in seiner Geburtsstadt. In London aber hatte er seine Leidenschaft zur Malerei entdeckt und ausgelebt. Hoch über den Wolken blieb mein Buch doch geschlossen. Sinnend über dieses Werk und Leben eines Künstlers schaute ich auf die weiße Landschaft der Wolken. Dieses Weiß ist so ein Wunder, dachte ich mir. Von unten sehen die Menschen einen überhangenen, von vielen ver­schiedenen Grauschattierungen durchzogenen Himmel. Von oben im Flugzeug hatte ich weites funkelndes Weiß. Kein Wunder, dass mein Vater sich so intensiv diesem Weiß in seinem Werk hingeben konnte. Zu einem seiner Bilder hatte ich geschrieben:

Yellow on white
like a cross but not a cross
just Four Yellows



Wenige Tage später saß ich in den frühen Morgenstunden im Zug nach Berlin. Wieder schaute ich aus dem Fenster – nun nicht von oben, vom Himmel, sondern von der Erde aus. Ein feiner Nebel hing über der Landschaft.
Wie wir die Welt und unser Leben betrachten, hängt sehr davon ab, in welchem Licht wir es sehen. So erzählt Julian Salamon für uns in dieser Ausgabe unseres Lebensmagazins, wie er immer auf das richtige Licht warten muss, um das Polarlicht gut fotografieren zu können. Aber auch bei einer Musikerin wie Sophie Hunger spürt man, wie sie in ihren Liedern das besondere Licht der Seele sucht, um das Leben mit all seinen Tiefen aus­drücken zu können.Und der Schriftsteller Patrick McGrath weist auf die Aufmerksamkeit hin, die wir im Verfolgen unserer Gegenwart brauchen. Auch hier, in Geschichte und Gegenwart, brauchen wir das richtige Licht, um sehen und angemessen handeln zu können. – Für eine gewisse Zeit aber im Zug fühlte ich mich frei von allen Verpflichtungen und Mahnungen:

Sonnenaufgang über die Felder
schweben
mit den Nebelstreifen


Genießen Sie das Licht in allen seinen Schattierungen, liebe Leserin, lieber Leser, und seien Sie von Herzen gegrüßt, Ihr

Jean-Claude Lin