Claus-Peter Lieckfeld

Der Ort, wo es mit uns anfing

Nr 229 | Januar 2019

In Dmanisi fanden Archäologen Knochen, die sie veranlassen, die Früh- und Ausbreitungsgeschichte der Menschheit umzuschreiben. Davon kann man sich im Südosten Georgiens ein Bild machen und zudem diese Gegend und ihre herzlichen Menschen kennenlernen.

Für den südgeorgischen Bio-Pionier Djondo Aduashwili, 49, war der Ort immer schon herausragend: das Dmanisi-Hochplateau im Grenzgebiet zu Armenien. Dort haben die Flüsse Mashaveta und Pinezauri ein großes Dreieck in den Basalt gesägt und einen Ort geschaffen, wo die Felsschwalben an den Abstürzen aufwärts fallen und Knabenkräuter im Sommerwind nicken. Schiere Magie.
«In meiner Jugend habe ich hier immer das Patroziniumsfest der Mutter Maria mitgefeiert», erinnert sich Djondo. Der Tag und die Nacht wurden durchgesungen und durchgetanzt. Im Rücken der Feiernden die Ruinen einer mittelalterlichen Königsstadt, in der die Händler der Seidenstraße ihre Kamele einstellten und Wein aus georgischen Amphoren tranken. «Wein mit der längsten Tradition der Welt», bestätigt Djondo den Eintrag im Georgien-Reiseführer.
Auf den Tanzplaz fällt der Schatten der Marienbasilika, erbaut im sechsten Jahrhundert. Einmalig? Djondo schüttelt den Kopf: Er könnte hier im Südosten Georgiens bei Bedarf Sakrales gleichen Alters vorzeigen. In fast jedem dritten Dorf.

Aber dass sein Dmanisi einmal eine der bedeutendsten Ausgrabungsstätten der Welt sein würde, ahnte in den Achtzigern keiner, weder in Klein- noch in Djondos Heimatdorf Groß-Dmanisi.
Djondo Aduashwili erinnert sich, dass in den Achtzigern Menschen mit fragilen Schäufelchen und Pinseln anrückten und sich bergwärts orientierten. Auf der Suche nach frühmittelalter­lichen Relikten war man – nicht planmäßig, eher zufällig – in Gesteinsschichten vor­gedrungen, die eine hohe Dichte fossiler Tierknochen enthielt: Säbelzahntigerknochen, Antilopenextremitäten, Rhinoschädel, sogar Reste eines Elefanten, der vor deutlich mehr als einer Million Jahre zu Tode gekommen sein musste.
Zum einen faszinierte die Vielzahl der Funde, zum andern der gute Erhaltungs­zustand; eine Lavaschicht hatte die Überreste zum erdgeschichtlich genau richtigen Zeitpunkt quasi gedeckelt. Zum Dritten ließ der Fund von primitiven Steinwerkzeugen aufhorchen: Steinabschläge von der Art, wie sie der frühe Homo erectus in seiner afrikanischen Urheimat schon vor mehr als 2,5 Millionen Jahren in Händen gehalten hatte. Wo viele Relikte jagdbaren Wildes eng neben menschengemachten Werkzeugen liegen, drängt sich eine Frage auf: Wäre es nicht denkbar, dass …?

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Fotos: © Thomas Maier / Biblische Reisen | Durch die Bildergalerie geht's per Klick auf die Klammern

Nein, es sei nicht denkbar, sagte der anthropologische Mainstream noch Ende der Achtziger. Menschenvorläufer, die mindestens 1,8 Millionen Jahren alt sind – so stand es in jedem Lehrbuch – seien ausschließlich Afrikaner. Das galt, bis ein georgischer Wissenschaftler 1991 einen perfekt erhaltenen Homo erectus-Unterkiefer aus dem Gestein befreite und acht Jahre später zwei vollständig erhaltene Schädel und große Skelettteile ans Licht kamen. Nirgendwo sonst, nicht in Afrika und nicht in China, fand man mehr und komplettere Homines erecti auf kleinem Raum. Und nirgendwo sonst frühmensch­liche Jäger: auf Armlänge neben ihren Waffen und den Knochen ihrer Beutetiere. Die Funde wurden auf den Zeithorizont von 1,8 Millionen Jahre und älter datiert.
Die Menschenvorläufer, das stand nun außer Zweifel, hatten Afrika rund 500.000 Jahre früher verlassen als angenommen und keineswegs – auch das galt lange als gesichert – mit großen Gehirnen, wie sie der Homo sapiens hatte. Dafür aber auf langen Beinen. Und mit Armen, die sie nach Affenart ums Schultergelenk kreisen lassen konnten. Nutzan­wendungen dafür fand man neben den Knochen großer Tiere: runde Fluss­kiesel, die jagende Horden geschleudert hatten, um ihre Beute auf eine Phalanx von Spieß­trägern zuzuscheuchen oder senkrecht die Steilwände hinab.
All das tritt derzeit zutage. Djondo Aduas­h­wili hat schon häufig das kleine Freiluft­museum am Hauptausgrabungsort besucht, allein und mit seinen Kindern, Neffen und Nichten. Und er ließ sich immer wieder von einem kleinen Schädel mit zahnlosem Unterkiefer ansprechen.
Dieser Kopf einer alten Frau hat etwas mitzuteilen: Es muss vor ein paar tausend Generationen Gemeinschaften von «Fast-Menschen» gegeben haben, in denen Altenpflege gelebt wurde. Kein Hominide hätte vor rund zwei Millionen Jahren ohne Zähne und Hilfe seiner Horde alt werden können. Vielleicht der früheste Beweis für Fürsorge, mutmaßen Anthropologen. Vielleicht ist Menschlichkeit ja älter als die Menschen.

«Fürsorge, damals schon … und heute?» Wen Djondo Aduashwili in seinen Garten einlädt, zu georgischem Qvevri-(Amphoren-)Wein, Bio-Käse und Brombeeren, der erfährt unweigerlich von einem landestypischen Dauer-fiasko: «Hilfe wird versprochen – und zwar nur versprochen.» Für den Bio-Pionier Djondo zeigt sich das unter anderem daran, dass die Politik sich als unfähig erweist, das versprochene Bio-Label zu schaffen. «Es ist vielfach angekündigt, aber das war’s dann auch.» In den fünf Jahren (2010 bis 2015), die Djondo in der Lokalpolitik tätig war, ging es vorrangig um Strom- und Wasserversorgung. «Gut, das war nötig. Aber heute könnte es darum gehen, das Land auf die Weltkarte der Naturwunder zu setzen. Wir haben eine fast einmalige Vielfalt an Pflanzen und Tieren in herrlichen Landschaften. Für so was kommen doch Touristen. Aber ...»

Eines der alles blockierenden «Abers» heißt Katasteramt. Oder richtiger: das Fehlen eines solchen. Wer immer im Kaukasus-Staat Land kaufen oder pachten will, erfährt, dass es keine belastbaren Informationen darüber gibt, wem Land gehört. Ein Erbteil der sowjetischen Okkupationszeit, als angeblich alles allen und in Wirklichkeit den Kolchosen und dem Staat gehörte. Aber deshalb aufgeben? Djondo ist kein Sprüchemacher, aber ein großer Freund der georgischen Trinkspruchkultur. Am Rande seiner Brombeerkulturen erhebt er das Glas und ruft: «Mögen unsere guten Wünsche in Erfüllung gehen. Und zwar nur die guten.» Dann nimmt er seine zehnjährige Nichte bei der Hand und zeigt ihr im Vorgarten seiner Obstplantage, woran man erkennt, dass Honig­waben erntereif sind.
«Georgien hätte so viel zu bieten», sagt er, während er die gerahmte Wabe wieder in die Beute steckt. «Hier könnten die Birdwatcher ihre Fernglas-Olympiaden ver­an­stalten, denn kaum irgendwo außerhalb des Tropengürtels gibt es vergleichbar viele Vogelarten. Aber es fehlt an ortskundigen Führern und an Pensionen auf dem Land. Ich könnte es mir gut vorstellen, wenn ...»

Es gibt also neben den «Abers» auch viele «Wenns» im Kaukasus-Staat. Ein sehr häufiges Wenn hört man an allen Ecken und Enden des Landes, das nicht größer ist als Bayern: «Wenn wir erst einmal in der EU sind.» Dann könnten vielleicht viele gute Entwicklungen finanziert werden, die Tbilisi nicht bezahlen will oder kann. Brüssel lobt zwar die im ganzen kau­kasischen Raum einmalige Pressefreiheit, bemängelt aber Totaldefizite im Umweltschutz. Dass die 1,2-Millionen-Metropole Tbilisi nicht täglich aufschreit, kann nur daran liegen, dass zum Schreien die Atemluft fehlt. Autos – ohne Katalysator und mit miesestem Billigsprit aus Aserbaidschan betrieben – fahren die Stadt im Talkessel in die Bereiche der Unerträglichkeit. Eine Metropole, die einen guten Mix aus alter und neue Architektur vorzeigen kann, eine exzellente Küche und spektakuläre Steilufer im Innenstadtbereich hat, so eine Stadt hat Potenzial, sagen die Entwickler. Alles toll, wenn nicht und aber ...
Im Schaufenster eines Reisebüros in Tbilisi unterhalb der Seilbahn, die zur Festung hoch überm Stadtzentrum gondelt, glänzt Dmanisi im Vierfarbdruck: «Der Friedhof der ältesten Europäer» lockt eine Werbe­aufschrift. Für vierhundert Jahre Archäologie – mit Schwerpunkt menschliche Entstehungsgeschichte – wäre Zeit und Raum, sagen die Experten im hauptstädtischen Naturkundemuseum. Und Platz für einen intelligenten Bildungs- und Erlebnistourismus der ganz besonderen Art wäre auch. Und für blühende Gärten wie jenen von Djondo Aduashwili sowieso. Wenn nicht … Aber das hatten wir ja schon – doch wo so vieles vor so langer Zeit für uns be­gonnen hat, kann noch so viel mehr weitergehen.