Christian Boettger im Gespräch mit Maria A. Kafitz

Jeder hat das Recht, eine Ausnahme zu sein

Nr 230 | Februar 2019

Wir alle verbringen einen durchaus bedeutenden Teil unserer Kindheit und Jugend an einem prägenden Ort: der Schule. Sie kann uns befeuern und anregen oder ängstigen und anstrengen. Für manche wird Schule gar zum Lebensthema, wie etwa für den Diplomingenieur Christian Boettger, der schließlich sogar aus Überzeugung Lehrer wurde. Nach langen Jahren an den Freien Waldorfschulen in Karlsruhe und Schopfheim ist er seit 2006 Geschäftsführer des Bundes der Freien Waldorfschulen (www.waldorfschule.de) und seit 2008 zudem Geschäfts­führer der dortigen Pädagogischen Forschungsstelle (www.forschung-waldorf.de). Seine Freude am Unterrichten, seine Neugier am Lernen und den Lernenden hat er auch außerhalb des Klassenzimmers – in das es ihn immer wieder zieht – nicht verloren.
Im Jahr 2019, in dem die Waldorfpädagogik ihren 100. Geburtstag feiert, möchte man nach dem Gespräch mit ihm fast selbst wieder Schülerin werden, wenn man wüsste, dass ein Lehrer mit dieser Hingabe fürs Unterrichten und diesem tiefen Interesse am Menschen an der Tafel stünde.

Maria A. Kafitz | Lieber Herr Boettger, Sie haben Luft- und Raumfahrttechnik studiert, wollten also in die höchsten Höhen. Dennoch sind Sie Lehrer geworden. Ist dieser Beruf für Sie eine andere Form von Höhenflug – oder wie kam es zur Entscheidung: weg aus den Weiten des Weltalls und hin zur Schwerkraft einer Schule?
Christian Boettger | Das ist gut: Aus dem Kosmos in den Kosmos der Schule! Die Luft- und Raumfahrttechnik hatte mich wirklich unglaublich begeistert, die Physik, das Kennenlernen der Weltraumforschung, das Miterleben, wie die ersten Menschen auf dem Mond gelandet sind. Und die Perfektion des Technischen faszinierte mich. Zumindest dachte ich, die Technik wäre perfekt. Aber wenn man das Fach dann studiert und merkt, wie oft da gepfuscht, herumgedoktert und improvisiert wird, verliert manches seinen Glanz. Entscheidend aber war etwas anderes: Ich habe bemerkt, dass mich diese Techno­logie und vor allen Dingen die Arbeit in den Forschungsabteilungen eigentlich nicht als ganzen Menschen ergreift, sondern nur als Kopf – und das wollte ich einfach nicht mehr. Also bin ich aus der Luft- und Raumfahrttechnik ausgestiegen und Lehrer geworden, denn beim Unterrichten von Kindern und Jugendlichen muss der Mensch als Ganzes im Mittelpunkt stehen. Zumindest sollte es so sein. Mit fünfundzwanzig gab es damals für mich nur einen Weg, möglichst schnell Lehrer zu werden, und zwar jenen über das Studium der Waldorfpädagogik. Mit diesem Schritt und allem, was ich dabei gelernt und erfahren habe, wurde für mich immer deutlicher, dass ich mich um Menschen kümmern, mit ihnen zusammen sein möchte – und dabei selbst Mensch werden will.

MAK | Was meinen Sie damit: «Mensch zu werden»?
CB | Für mich bedeutet Menschsein eigentlich immer Menschwerden. Niemals fertig, immer in Entwicklung zu sein, immer noch etwas dazuzulernen. Eigentlich ist ein Mensch immer ein Lernender. Und nichts zeigt einem das besser als das Jugendalter. Hierin liegt eine der ganz besonderen und wert­vollen Seiten des Lehrerberufs, der viel zu wenig beachtet wird: Man darf an der Entwicklung eines jungen Menschen teilhaben und sich daran selbst auch entwickeln.

  • img cat 2
  • img cat 2
  • img cat 2
  • img cat 2
  • img cat 2
  • img cat 2
  • img cat 2
  • img cat 2
  • img cat 2
  • img cat 2
  • img cat 2
  • img cat 2
Fotos: © Wolfgang Schmidt | www.wolfgang-schmidt-foto.de | Durch die Bildergalerie geht's per Klick auf die Klammern

MAK | Eines der wohl bekanntesten Bücher über die Waldorfpädagogik trägt den Titel Erziehung zur Freiheit. Kann man zur Freiheit erziehen? Hat Freiheit innerhalb einer Schule überhaupt einen Platz, einen Ent­faltungsraum?
CB | Es wäre ja fatal, wenn ich nur frei wäre, wenn ich draußen bin. Dann wäre die Schule praktisch ein «Lerngefängnis» und die sogenannte «Freizeit» fände nur andernorts statt. Ich glaube aber, dass Kinder und Jugendliche in der Schule ihre Freiheit erleben müssen. Übrigens auch die Lehrer. Eigentlich muss dieser Lernraum Schule der wirkliche, der echte Freiheitsraum sein. Wenn er das ist, wirkt dies auch auf die Zeit danach.

MAK | Wie kann das gelingen?
CB | Erst einmal muss das Individuum ernst genommen werden. Frei ist man ja nur, wenn man auch wirklich als einzelner Mensch wahrgenommen wird. Ich bin niemals frei als Gruppe. Als Gruppenmitglied und durch Gruppenzwänge ist man praktisch immer schon in sich selbst gefangen. Aber jeder ist einzigartig. Und wir müssen jedem diese Einzigartigkeit zugestehen – jedem Schüler und jedem Lehrer. Ich habe das vor Kurzem bei einem Elterngespräch so formuliert: Jeder Jugendliche in der Schule hat das Recht, eine Ausnahme zu sein.

MAK | Das ist ein bemerkenswerter Gedanke, der auch außerhalb der Schule gelten sollte. Was aber heißt das für Sie als Lehrer konkret?
CB | Wenn ich Ernst mache mit diesem Gedanken, dann darf ich mich als Lehrer nicht hinter Regeln verschanzen, die von mir oder meiner Schule aufgestellt wurden, denn sonst habe ich nie den Freiraum, eine Ausnahme zu machen. Ich muss mir als Pädagoge ganz praktisch in alle Richtungen Freiraum er­öffnen und mich dabei stetig selbst hinter­fragen. Und den Schülern muss ich Freiräume eröffnen, in denen sie sich bei allem, was es zu erlernen gibt, entfalten und einbringen können. Hierbei geht es nicht um ein zielloses Ausleben von falsch verstandener Freiheit. Freiheit und Individualität hängen beim Menschen immer mit Gemeinschaft zusammen. Und Gemeinschaft funktioniert nur, wenn wir Verabredungen treffen und echtes Interesse am anderen und seinen Gedanken haben. Wenn ich das als Lehrer wirklich ernst nehme, muss ich meine Fragen so formu­lieren, dass ich an einer Antwort interessiert bin, die ich noch nicht kenne. Dass eine Frage eine neue Frage provoziert und eine neue Überlegung einen wirklich neuen Gedanken produziert. Das schafft für Schüler, aber auch für Lehrer einen Entwicklungsraum, in dem beide stetig voneinander lernen können, und zwar im jeweils individuellen Tempo. Ich bin nämlich nicht nur davon überzeugt, dass jeder eine Ausnahme ist, sondern auch davon, dass jeder Mensch seine eigene Entwicklungszeit hat. Menschsein heißt, sich entwickeln können. Aber es heißt nicht, dass jeder Mensch die gleiche Zeit braucht. Jeder hat eine andere Zeit. Wir denken – auch in der Schule – aber leider immer noch zu stark in Normen.

MAK | Wie kann vor diesem Hintergrund guter Unterricht gelingen, auch in Fächern, die nicht für alle leicht sind? Sie kennen das ja gut, denn schließlich haben Sie Mathe­matik und Physik unterrichtet.
CB | Das müsste man eigentlich Schüler von mir fragen. Guter Unterricht gelingt nicht immer, und jeder Unterricht ist in gewissem Sinne ein Wagnis. Eine Schulstunde kann eine Sternstunde werden – sie kann aber auch scheitern. In Wirklichkeit, davon bin ich überzeugt, will jeder Mensch lernen. Er möchte etwas können, sich einbringen in diese Welt und etwas verändern, etwas verbessern. Und jetzt kommt es eben darauf an, was der Lehrer damit macht: Ist er begeistert von seinem Fach? Hat er ein tieferes Interesse daran?
Ist es ihm selbst nicht langweilig? Denn wenn es ihn langweilt, kann Lernen nicht funktionieren. Wenn dem Lehrer das Fach, jede einzelne Stunde wichtig ist, weil etwas ganz Besonderes passieren soll, dann kann auch Mathe­matik oder Physik aufregend werden. Vor allem dann, wenn abstrakte Inhalte mit Leben gefüllt werden. Im Unterricht sollte etwas unmittelbar Spürbares vermittelt werden. Wenn zum Beispiel das Gesetz von den Schallbewegungen nicht nur als Formel genannt wird, sondern im Experiment beeindruckt – und bewegt. Wenn das gelingt, hat man schon viel gewonnen, weil Fragen entstehen. Manchmal können daraus sogar Lebensfragen erwachsen. Natürlich scheint es die eigentliche Aufgabe der Schule zu sein, Lerninhalte zu vermitteln. Sie darf dabei aber kein künstliches Unternehmen werden. Sie muss so lebenstüchtig und so lebenspraktisch wie nur möglich sein.

MAK | «Ihre» Schule feiert 2019 ja den 100. Geburtstag. Im September 1919 wurde in Stuttgart die erste Waldorfschule eröffnet. Was ist in Ihren Augen das pädagogische Herzstück dieser Schulform? Was braucht sie heute, was für die Zukunft?
CB | Das Herzstück herauszugreifen ist natür­lich nicht ganz so einfach, da muss ich mehrere nennen – und werde doch manche ungenannt lassen. Eines ist auf jeden Fall, dass die Entwicklung des einzelnen Kindes im Mittelpunkt steht. Rudolf Steiner, der Begründer der Waldorfpädagogik, sagte das sogar so: «Jedes Kind in deinem Klassenraum ist ein Mittelpunkt des Kosmos.» Das finde ich einen ganz wunderbaren Gedanken, auch in Bezug auf mich und meine berufliche Herkunft.
Das funktioniert aber nur – und da war Steiner schon sehr genial und visionär in seiner Zeit –, wenn die Schule auf dem Autonomieprinzip aufgebaut ist, wenn der Lehrer eben wirklich für das verantwortlich ist, was er macht, also wirklich selbstbestimmt arbeiten kann. Davon sind wir meines
Erachtens noch meilenweit entfernt, weil das an den Einzelnen auch riesige An­forderungen stellt. Zu gerne legen wir uns zurück ins Ruhekissen von irgendwelchen Verordnungen oder Vorgaben, die irgendjemand anderes aufgeschrieben hat. Aber ich kann auf Dauer die Verantwortung nicht auf andere Menschen abschieben.
Neben der Autonomie ist ein weiteres Herzstück – auch wenn das heutzutage seltsam klingen mag – die folgende, von Steiner immer wieder betonte Frage: Wie steht es um eure Liebe? Liebt ihr diese Menschen, die euch da begegnen als Lehrer und als Schüler? Er meinte damit eine allgemeine Menschenliebe, die Entwicklungsraum letztendlich erst ermöglicht. Diese Frage muss auch heute stets aufs Neue gestellt werden. Und die Antwort ist nie einfach, denn nicht immer begegnen wir einander mit vorurteilsfreiem Herzen.
Darüber hinaus darf ein Lehrer sich niemals ausruhen auf dem, was er mal mit einer Klasse geleistet hat. Er sollte niemals denken: Ich habe jetzt schon zehn Jahre lang den Satz des Pythagoras gut ein­geführt, also wird es das elfte Mal auch klappen. Er darf niemals das Gefühl haben, irgendeinen «super­päda­gogischen Weg» zu beherrschen. Als Lehrer muss man immer auch ein Sich-Entwickelnder bleiben. Das hat Rudolf Steiner den Lehrern schon 1919 ans Herz gelegt. Aber ob wir das wirklich er­füllen, ist damals wie heute ein offenes Feld.
Ein letztes Herzstück will ich noch nennen, und es ist wie die anderen kein Unwesentliches: Ich muss in der Schule auch die gesamte Umgebung und die gesamte Gemeinschaft, die Gesellschaft, meine Gemeinde, meine Stadt im Bewusstsein haben. Ich muss immer ein Mensch der Zeit sein. Jeder Lehrer, der irgendwie von gestern wirkt, wird von den Schülern nicht ernst ge­nommen. Ein Lehrer von heute zu sein heißt, sich für alles zu interessieren, was es auf der Welt gibt. Grundsätzliches Interesse – das ist es, was insbesondere Jugendliche, aber auch die kleinen Kinder wirklich wichtig finden.
Und sie merken es sofort, ob man Interesse hat oder nur so tut. Wenn wir es jedoch schaffen, das Weltinteresse mit der Menschenliebe zu verbinden, dann kann die «Erziehung zur Freiheit» gelingen, und zwar für die Schüler und Lehrer heute – und für noch mindestens weitere 100 Jahre!