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Hector Malot

Nie mehr allein

Nr 230 | Februar 2019

gelesen von Simone Lambert

Als er acht Jahre alt ist, ändert sich Rémis Leben schlagartig. Der Mann von Mutter Barberin, einer einfachen Bäuerin, kehrt, arbeitsunfähig geworden, aus Paris in sein Dorf zurück und will den unnützen Esser aus dem Haus haben. Denn, so erfährt Rémi jetzt, er ist ein Findelkind und Madame Barberin nicht seine Mutter. Vitalis, ein italienischer Schausteller, mietet das Kind für zwei Jahre und zieht mit Rémi durch Frankreich. Er behandelt ihn gütig und verständnisvoll, erklärt ihm, was er wissen muss, und sorgt für ihn. Rémi lernt lesen, schreiben und musizieren. Ihm werden Haltung und eine menschliche Moral vermittelt.
Der Abenteuerroman Nie mehr allein von Hector Malot über den Jungen Rémi, der seine wahre Familie sucht und auf seiner langen Reise Freunde findet, die diese (beinahe) ersetzen, ist kein historischer Roman, sondern beschreibt die Realität im Frankreich seiner Entstehungszeit um 1878.
«Findelkinder vermieten» – was in unseren Ohren absurd klingt, war Realität. Armut trieb Eltern dazu, ihre Kinder zu verkaufen. Kinder schlugen sich allein durch, Kinder­arbeit war üblich; eine gnadenlose Obrigkeit und eine freudlose Moral taten ihr Übriges, das Leben zu erschweren.
Über diese sozialen Themen schreibt Hector Malot mit echter Anteilnahme. Sein junger Held ist ein freundliches, tapferes Kind, das an den Schicksalsschlägen, die ihn zuhauf treffen, nicht verzweifelt. Rémi muss viele schmerzhafte Abschiede nehmen, wird bei einem Bergwerksunglück beinahe verschüttet und erlebt wiederholt En­t­täuschungen, als er nach seinen wahren Eltern sucht. Zugleich ist er mitfühlend und hilfsbereit und hält den Menschen die Treue, die er liebt. Er erlebt durchaus be­glückende und harmonische Momente.
Das Leben in Freiheit ist schön (Malots Schilderungen spiegeln seine Liebe zur Natur), doch die Not ist ständiger Begleiter: sie hungern, frieren, sind obdachlos. Als Vitalis wegen einer Ordnungswidrigkeit für zwei Monate ins Gefängnis muss, trifft Rémi an einem Kanal auf die reiche englische Witwe Mrs Milligan und ihr gelähmtes Kind. Sie vermisst ihren ersten Sohn, der mit sechs Monaten spurlos verschwand. Als Gesellschafter vertreibt Rémi ihnen auf der Bootsfahrt die Zeit. Hier ist er glücklich.
Dennoch wandert er mit Vitalis weiter, bis in einer eisigen Nacht der alte Mann erfriert. Ein verwitweter Gärtner nimmt den Jungen auf. Nach zwei glücklichen, arbeitsreichen Jahren zerstört ein Unwetter dessen materielle Existenz und er muss seine vier Kinder auf ganz Frankreich in verwandte Familien aufteilen. Rémis verspricht, die «Geschwister» an ihrem neuen Wohnort zu besuchen. Wieder reist er durch Frankreich, diesmal mit dem ebenfalls elternlosen Mattia, der sich als echter Freund erweist. Gemeinsam entdecken sie die wahre Herkunft Rémis im fernen London …

Das vorliegende Buch ist eine Prachtausgabe des Klassikers: Großformatig, in Halbleinen gebunden, auf gutem Papier gedruckt und mit zahlreichen, durchweg farbigen und wunderschönen Illustrationen von Charlotte Dematons ausgestattet. Die Bilder greifen vor allem Stimmungen und Atmosphäre auf. Der Vorsatz zeigt auf gezeichneten und aquarellierten Landkarten Rémis Reiserouten, so dass sein Weg, der sich bis ins kleinste an realen Orten orientiert, nachvollzogen werden kann. Ein Aufwand, der dem liebevollen Charakter des Werks entspricht.