Walther Streffer

Orientierung am Beispiel des Vogelzugs

Nr 231 | März 2019

Immer wieder erreichen uns sensationelle Nachrichten über die Flugleistungen der Vögel: So fliegt ein kleiner Fitis über 10.000 km von Skandinavien bis nach Südafrika, und eine Pfuhlschnepfe unternimmt einen Nonstopflug von Alaska bis nach Neuseeland von insgesamt 11500 km! Wir sehen im Spätsommer oder Herbst ziehende Störche, Kraniche oder Stare. Wir können im Winter im Nord­deutschen Wattenmeer Millionen rastender nordischer Wasservögel beobachten. Aber der größte Teil des Vogelzugs bleibt uns verborgen.
Von den europäisch-asiatischen Zug­vögeln sind es mehr als fünf Milliarden Individuen, die jedes Jahr ihre Brutplätze verlassen, um ferne Ruheziele aufzusuchen. Für diese großen, gefahrenreichen Wanderungen sind die Zugvögel bestens ausge­rüstet, und zwar durch ihre kognitiven Fähigkeiten, ein hoch wirksames Atmungssystem im Einklang mit dem leistungsfähigen Herzen, durch den Bau der Federn, die guten Augen und nicht zuletzt dadurch, dass sich die Fernzieher für die Reise ein Fettpolster zulegen.
Anders als man denken möchte, ist das Zuggeschehen nicht generell eine gesellige Unternehmung. Die meisten Fernwanderer unter den heimischen Singvögeln ziehen einzeln und nachts, etwa Gartenrotschwanz, Nachtigall, Sumpfrohrsänger, Dorn- und Gartengrasmücke, Gelbspötter, Waldlaub­sänger, Fitis, Trauerschnäpper und Pirol.
Dass der Vogelzug ein globales Phänomen ist, zeigt die Karte, die Hauptzugrich­tungen von der Arktis bis zur Antarktis verdeutlicht. Die Mehrzahl der Zugvögel sind Brutvögel der nördlichen Hemisphäre. Das hängt mit den unterschiedlich großen Landmassen nördlich und südlich der Wendekreise zusammen. In den Tropen selbst gibt es kaum eigentlichen Vogelzug: Die meisten Fruchtfresser der Regenwälder sind Standvögel, und größere Bewegungen in den Subtropen sind in der Regel Nahrungswanderungen im wechselnden Rhythmus von Regen- und Trockenzeiten. Die Insektenfresser folgen dem Regen und die Samenfresser der Dürre. Auch große Buschbrände verursachen Tierwanderungen. Aber nicht alle Tiere flüchten vor dem Feuer: Schreitvögel wie Störche und Marabus folgen den Bränden, um flüchtende Kleintiere zu erbeuten.
Ist es schon bei Tag eine beachtliche Leistung, die Flugroute zu kennen, so bewundern wir zu Recht, dass auch nacht­ziehende Vögel sicher zu ihren fernen Zielen gelangen und im Frühjahr ihre ehemaligen Nistplätze oder Heimatgebiete wiederfinden. Tagziehende Vögel orientieren sich optisch an Landschaftsstrukturen bzw. Landmarken (Küstenlinien, Flussläufe, Waldränder, Berge, Seen); Nachtzieher richten sich nach den Sternen. Neben dem Sonnen- und Sternenkompass besitzen die Vögel auch noch einen Magnetkompass: Sie orientieren sich an den Magnetfeldlinien der Erde. Zugvögel ver­stehen etwas von der Navigationskunst, das heißt sie können von einem unbekannten Ort stets einen bekannten Ort wiederfinden.
Auch wenn häufig von angeborenen Orientierungsfähigkeiten gesprochen wird, so bedarf es doch individueller Lernprozesse der Jungvögel im Umgang mit den «Kompass-Systemen». Die Ausstattung der Sing­vögel mit Minisendern offenbart inzwischen recht individuelle Zugrouten; selbst Vogel­geschwister können in ganz unterschiedliche Richtungen fliegen. Manche Vögel ziehen sogar extrem gefährlich: Indische Streifengänse überqueren den Himalaya in über 8.000 Metern Höhe. Es scheinen die uralten Ausbreitungswege zu sein. Vermutlich flogen die Gänse diese Route bereits, als das gewaltige Gebirge noch nicht existierte – denn evolutiv sind Gänse älter als der Himalaya!