Mit anderen teilen

Nr 232 | April 2019

Liebe Leserin, lieber Leser

«Für mich ist Europa deswegen so spannend, weil es auch Vorreiter sein könnte in der Hinsicht, dass man mit anderen teilt, wirklich am Gemeinwohl arbeitet und Grenzen überwindet.» Das äußert Marie Rosenkranz in unserem Gespräch in diesem Monat. Aufgewachsen im Dreiländereck Niederlande – Deutschland – Belgien, arbeitet sie nun von Berlin aus für das European Democracy Lab und engagiert sich vor allem für den Versuch einer friedlichen, teilenden europäischen Gemeinschaft.
Neununddreißig Jahre lang lebe ich nun in Deutschland. Als ich Kind war und in den Sechzigerjahren in England mit den von mir heimlich gekauften – weil meine pazifistisch erzogene französische Mutter es durchaus nicht gebilligt hätte – Comic-Heften mit den Heldengeschichten der Briten gegen die Deutschen im Zweiten Weltkrieg und den vielen Kriegsfilmen aufwuchs, hatte ich natürlich ein sehr einseitiges Bild der Deutschen und ihrer Art und Geschichte. Erst allmählich, wozu die elf Jahre auf einer englischen Waldorfschule und der dort gleich zusammen mit Französisch ab der ersten Klasse erteilte Deutschunterricht einiges beitrugen, lernte ich ein anderes Deutschland kennen. Aber es waren doch meine Liebe zu einem deutschen Mädchen, die Aufenthalte in ihrer Familie in der Nähe von Freiburg einerseits und die Lektüre beispielsweise des Romans Heinrich von Ofterdingen von Novalis und die Anthroposophie Rudolf Steiners andererseits, die in mir eine große Sehnsucht nach diesem geistigen Deutschland oder genauer gesagt dieser mitteleuropäischen Kultur weckten. Ich erfüllte mir einen Traum, einige Jahre an einer deutschen Universität zu studieren – wobei ich allerdings erleben musste, dass die Universität der Achtzigerjahre doch um einiges anders geworden war als diejenige zur Zeit Schillers und Fichtes. Aber ich lebte hier – erst in Mannheim, dann in Mainz und schließlich in Stuttgart – glücklich mit britischem Pass, aber mich als «halb Franzose, halb Engländer und halb Chinese», wie ich das als Kind immer formulierte, durch und durch «europäisch» fühlend. In meinem Schachverein und Schachverband werde ich seit Jahren als «Deutscher» gelistet. Und meine fünf Kinder sind auch alle Deutsche.
Während ich diese Zeilen schreibe, werden meine Antworten zu den 33 Fragen des Einbürgerungstests ausgewertet. Vielleicht erhalte ich demnächst einen deutschen Pass. Das wäre eine logische, auch lebensvolle Konsequenz meines Lebens hier, in diesem Land und für diese geistige Kultur. Ich lernte hier, wie viel die deutsche Kultur für die Welt bedeuten kann. Nach der Finsternis der zwölf Jahre des Dritten Reichs und dem Zweiten Weltkrieg hat Deutschland tatsächlich in beeindruckender Weise gezeigt, welche Aufgaben Europa noch hat, um Frieden und Gemeinwohl in der Welt zu fördern und voranzubringen. Das wollen wir sicherlich mit anderen auf dieser Welt teilen!

Von Herzen grüßt Sie,
Ihr
Jean-Claude Lin