Walther Streffer

Planen für die (nahe) Zukunft

Nr 234 | Juni 2019

Tierisches Verhalten galt im letzten Jahrhundert häufig als instinktives Handeln; bei höher entwickelten Vögeln und Säugetieren wird aber heute zu Recht von individueller Intelligenz gesprochen. Die Individuen zeigen unterschiedliche Formen von Gedächtnis, sie können zum Teil aus Einsicht handeln und auch zielgerichtet für die (nahe) Zukunft planen. Sie scheinen demnach nicht, wie man lange dachte, nur in der Gegenwart gefangen zu sein.
So täuscht beispielsweise eine Krähe beim Futterverstecken ihre Artgenossen stets im Hinblick auf die nahe Zukunft. Beim Vergraben von Futter achtet sie darauf, ob sie beobachtet wird und von wem. Ein Fuchs wiederum, der am Vormittag ein halb verzehrtes Kaninchen vor den Krähen versteckt, macht dies, weil er aus Erfahrung weiß, dass die Krähen ihm sonst die Beute streitig machen würden. Und weil der Fuchs so für die Mahlzeit am Abend sorgt, spielt nicht nur die Vergangenheit in sein Leben hinein, sondern auch die Zukunft.
Wenn ein Menschenaffe seine Betreuerin an deren Versprechen erinnert, eine Banane mitzubringen, so ist diese freundliche Mahnung ein Teil der Gegenwart, das Versprechen der Betreuerin jedoch, welches der Affe – im Gegensatz zur Betreuerin – nicht vergessen hat, gehört zur vergangenen Etappe, während die Hoffnung des Tieres auf Erfüllung des Versprechens mit der (nahen) Zukunft verbunden ist.
Die Biologin und Psychologin Prof. Nicola S. Clayton von der Universität Cambridge konnte in mehreren Versuchen an amerikanischen Buschhähern nachweisen, dass diese Vögel sich nicht nur erinnern können, wo sie etwas versteckt haben, sondern gleichzeitig auch, was und wann. Dies entspricht einem episodischen Gedächtnis. Tests mit verderblichem und haltbarem Futter zeigten, dass die Buschhäher dank ihrer besonderen Merkfähigkeit in der Lage waren, die Futterverstecke von Raupen und Nüssen recht flexibel zu nutzen, das heißt, sowohl nach Schmackhaftigkeit als auch nach «Haltbarkeitsdauer» auszuräumen. Sie hatten also nicht nur eine Vorstellung davon, dass es unterschiedliche Nahrung mit jeweils unterschiedlicher Verderblichkeit gab, sondern auch, wo sie welche davon gelagert hatten und wie lange es her war. Letzteres deutet darauf hin, dass die Tiere ein strukturiertes Bild der Vergangenheit haben, das durch Lernprozesse modifiziert werden kann.
In einem weiteren Versuch bewiesen die Buschhäher, dass sie auch ein gewisses Konzept von der Zukunft haben: Die Tiere hatten mehrere Tage Zeit, in drei verschiedenen Räumen nacheinander zu lernen, in welchen Räumen und wann es dort etwas zu fressen gab und in welchen nicht. Danach wurde den Buschhähern der freie Zugang zu allen Räumen erlaubt. Und was taten die Vögel? Sie begannen nicht, gleich zu fressen, sondern sie sorgten zuerst in dem Raum für Frühstück, in dem es morgens keine Nahrung gab, und deponierten darin Leckerbissen, die dort üblicherweise nicht angeboten wurden.
Die Buschhäher planen demnach für den nächsten Tag, berichtet das Forscherteam um Clayton im Wissenschaftsmagazin Nature. Bisher sei angenommen worden, dass Tiere nur für die Gegenwart Entscheidungen treffen könnten, aber die Experimente haben gezeigt, dass die Buschhäher auch fähig sind, die Zukunft zu erfassen und ihr Verhalten entsprechend anzupassen. Die Buschhäher, so kommentiert Clayton ihr Experiment, seien nicht im Hier und Jetzt gefangen. Sie können sich offenbar einen Zeitpunkt in der Zukunft vorstellen. Sie sehen künftige Bedürfnisse vorher und lassen ihr Handeln davon leiten, selbst wenn es den momen­tanen Bedürfnissen widerspricht. Die Erkenntnisse erforderten ein Umdenken und eine neue Wahrnehmung von den kognitiven Fähigkeiten der Tiere.