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Andreas Neider

Das Miterleben der Jahreszeiten

Nr 235 | Juli 2019

Denken mit dem Herzen

Ein besonderer Ausdruck der Erfahrung des Zeitlichen durch das Mitfühlen des Herzens war in der japanischen Dichtung sowohl des Mittelalters wie der Neuzeit immer auch das Miterleben der Jahreszeiten, also des Ent­stehens und Vergehens in der Natur.
So gehört es zu den Grundregeln der Haiku-Dichtung, dass sich in jedem Haiku eine Beziehung zur jeweiligen Jahreszeit findet. Es geht in der Haiku-Dichtung nicht um den Ausdruck subjektiver Gefühle oder Stimmungen, sondern um den möglichst genauen Ausdruck dessen, was jahreszeitlich, in einem bestimmten Augenblick im Sinne des mono no aware (das «Herz­zerreißende der Dinge») erlebbar ist.

Nehmen wir dazu ein Beispiel von Bashô:

Rauher Wellengang!
Weit nach Sado hinüber, spannt sich
der Himmelsfluss …
*

Zum Verständnis dieses berühmten Haiku müssen wir etwas weiter ausholen. Bashô ist auf seiner Reise durch das japanische Binnenland an die Nordküste gelangt. Die Jahreszeit wird durch das Wort «Himmelsfluss», womit die Milchstraße gemeint ist, angedeutet. Denn dem japanischen Mondkalender zufolge wurde am 7. Tag des 7. Monats, das ist Anfang August, ein altes Sternenfest, das Tanabata-Fest, gefeiert, dem eine Sternenlegende zugrunde liegt. Ein Hirtenknabe hatte sich in ein Mädchen, die Himmelsweberin, am Hofe des Himmelskönigs so sehr verliebt, dass beide ihren Pflichten nicht mehr nachkamen. Der Himmelsherrscher trennte die beiden daraufhin, links und rechts von der Milchstraße, als Stern Atair im Adler (Hirtenknabe) und Stern Wega in der Leier (Himmelsweberin). Nur in der Nacht vor dem 7. Tag des 7. Monats durfte der Hirtenknabe den Himmelsfluss über­queren, um zu seiner geliebten Himmels­weberin zu gelangen.
Auf dieses Sternenfest Anfang August also spielt Bashôs Haiku an. Warum aber benutzt er das Bild des Himmelsflusses im Hinblick auf die Insel Sado? Diese dem Festland weit vorgelagerte Felseninsel war damals eine Gefangeneninsel; jegliche Flucht von diesem öden Eiland war unmöglich. Bashô spielt also auf dieses Gefangensein und die damit verbundene Traurigkeit an, die er aber durch das Bild des Himmelsflusses und die damit verbundene Sternenlegende, nämlich die sich zum Sternenfest gegenseitig be­suchenden Liebenden, überbrückt. Der rauhe Wellengang wird dabei zum Bild für die innere Bewegtheit angesichts des Schicksals der Gefangenen auf der Insel.
Die dorthin am Himmel hinüber­reichende Milchstraße aber wird zum Bild für eine nicht-sinnliche, überirdische Beziehung der Gefangenen zu ihrer himmlischen Herkunft. So verbindet Bashô das Vergängliche mit dem Unvergänglichen. Das Jahresfest mit seinem legendären Ursprung wird mit der räumlichen Situation der auf Sado Gefangenen verknüpft und zum Erlebnis des rauhen Meeres in Beziehung gesetzt. Herzerfüllter und zugleich einfacher als Bashô kann man diese bewegende Situation wohl kaum beschreiben.