Edward Dusinberre im Gespräch mit Jean-Claude Lin und Martin Lintz

Beethoven ist immer neu

Nr 240 | Dezember 2019

Beethovens Musik wird 2020 wohl besonders oft erklingen. Konzertveranstalter, Festspielhäuser, Ensembles, Solisten feiern den 250. Geburtstag des Komponisten vielfältig und ausgiebig, auf dem CD-Markt ist das Ereignis mit vielen Neueinspielungen längst präsent. Anlass genug, sich mit einem zentralen Werkbereich Beethovens näher zu befassen: den Streichquartetten. Schließlich sind sie Höhepunkte seines Schaffens, die vielleicht persönlichste Stimme, in der sich seine künstlerische Entwicklung unmittelbar widerspiegelt. Wir sprachen darüber mit Edward Dusinberre, dem 1. Geiger des renommierten Takács Quartet (www.takacsquartet.com), das u.a. eine gefeierte Gesamtaufnahme der Beethoven-Quartette eingespielt hat (erschienen bei Decca). Dusinberre ist zudem Verfasser des Buchs «Beethoven für eine spätere Zeit», das uns Beethovens Musik anschaulich näherbringt – die Entstehung seiner Quartette, ihre geschichtlichen Hintergründe – und uns an den Erlebnissen und Erfahrungen eines heutigen Quartettensembles teilhaben lässt. Am Vorabend eines Konzerts in Baden-Baden, in dem auch Beethovens letzte Quartettkomposition, op. 135, erklang, unternahmen wir mit dem Geiger und Autor eine kleine Erkundungsreise in die Welt der Wiener Klassik.

Jean-Claude Lin | Lieber Edward Dusinberre, Beethoven wird seit über 200 Jahren gespielt, und Sie spielen ihn …
Edward Dusinberre | … was die Streichquartette betrifft: seit 25, 26 Jahren.

JCL | Gibt es dabei für Sie noch etwas Neues zu entdecken?
ED | Ja, jedes Mal entdeckt man wieder Neues. Das hat mit der Beziehung zwischen den vier Spielern und den vier Stimmen zu tun. Im Quartett ist jeder von uns eine eigene Persönlichkeit. Immer, wenn wir z.B. zu op. 135 zurückkommen, hat einer eine neue Idee, die wir ausprobieren sollten: zur Art, wie die Stimmen miteinander kommunizieren, zur Dialogführung, zum Charakter des Stücks. Bei Beethovens Quartetten gibt es so viele Möglichkeiten, ihre Eigenheiten auszudrücken. Außerdem ist die Musik sehr anspruchsvoll. Wenn man sie wieder aufgreift, ist man überrascht: Es fühlt sich an, als müsste man sie sich neu erarbeiten.

Martin Lintz | Vor 20 Jahren spielten Sie auch in anderer Be­setzung als heute. Das hat natürlich ebenfalls Auswirkungen.
ED | Absolut. Bei Kammermusik kommt es ganz darauf an, wie du auf deine Mitspieler reagierst. Seit eineinhalb Jahren haben wir eine neue 2. Geigerin, Harumi Rhodes. Sie stellt sich in die Tradition der Gruppe, doch zugleich drückt sie ihre eigene musikalische Persönlichkeit aus. Sie gestaltet daher auch die Stimme der 2. Violine anders. Und wir freuen uns wahnsinnig auf Richard O’Neill, unseren neuen Bratschisten ab Juni 2020. So entwickeln wir uns immer weiter und verändern unsere Interpretationen. Das ist aufregend und macht sehr viel Freude. Doch selbst wenn wir noch dieselbe Besetzung hätten wie beim Aufnehmen der Quartette Beethovens, würden wir sie heute bestimmt anders spielen. Vor seinen späten Quartetten hatte ich zuerst großen Respekt – ja, sogar Angst. Nach unserer Ein­spielung kann ich das Element der Phantasie und Improvisation, den freiheitlichen Zug dieser Musik mehr wertschätzen. Es ist nicht leicht, jene Freiheit zu bewahren. Gerade heute nicht, wo jeder einen hohen Grad an Perfektion erwartet.

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Fotos: © Wolfgang Schmidt | www.wolfgang-schmidt-foto.de | Durch die Bildergalerie geht's per Klick auf die Klammern

JCL | Bevor ich auf Ihr Buch stieß, hatte ich mich kaum mit Streichquartetten beschäftigt. Daher war ich fasziniert von Ihrer Beschreibung des Zusammenspiels im Ensemble und der Art, wie Beethoven die Stücke komponierte. Um ein Gefühl dafür zu bekommen, worauf er eigentlich aufbaut, habe ich mir aber erst einmal Haydn-Quartette angehört.
ED | Sehr gut! Ich schätze bei Haydn die dramatische Über­raschung. Wie er beispielsweise mit dem Element der Stille umgeht. Das macht großen Spaß in Konzerten, denn jeden Abend ist die Stille ein bisschen anders, abhängig davon, wann sie genau eintritt und wo wir die Musik aufführen. Und Haydn liebt das Abschweifen: Du spielst deinen Part, alles scheint ganz normal, doch plötzlich führt er dich an einen überraschenden Ort – wie ein großer Jazz-Musiker. Wir müssen diesen Aspekt des Entdeckens und der Überraschung nachbilden, das Geheimnisvolle, die Spannung, die in der Musik liegt.

JCL | Das heißt, dass Haydn ziemlich raffiniert komponiert hat, nicht so klassisch und konservativ, wie wir das vielleicht denken?
ED | Ja, er ist sehr radikal und oft auch genial. Aber einige langsame Sätze der späten Haydn-Quartette sind so tief empfunden wie ein langsamer Satz bei Beethoven, sie sind unglaublich mysteriös und ätherisch. Es ist eigentlich amüsant, dass Beethoven von Bonn nach Wien ging, um bei Haydn zu lernen – es galt als sein großes Studienprojekt –, aber die Lehrer-Schüler-Beziehung war wohl nicht sehr befriedigend. Beethoven war vermutlich nicht so respektvoll, wie er hätte sein sollen. Im Endeffekt lernte er eine Menge von Haydns Musik – nur eben nicht so sehr durch den konkreten Unterricht.

JCL | Und wie würden Sie Mozart im Vergleich zu Haydn und Beethoven charakterisieren?
ED | Was die Quartette anbelangt: Ich finde sie wundervoll, aber extrem schwer zu spielen, vielleicht schwerer als Haydns oder Beethovens. Natürlich gibt es auch bei diesen beiden ein weites Spektrum an Gefühlen, aber bei Mozart wechselt die Stimmung so rasch, von einer Phrase zur nächsten; die Veränderungen sind subtil und schwer zu fassen, die Stimmung lässt sich nicht leicht festlegen. Bei Haydn kann man das eher sagen: Das ist Tanz­musik, das ist fröhlich, das ist geheimnisvoll, das ist düster.
Mozarts Einfluss zeigt sich bei Beethoven etwa in op. 135. Das Stück erinnert mich an Mozart, weil man es hier mit denselben Schwierigkeiten zu tun hat: An der Oberfläche ist es sehr kunstvoll durchgestaltet und tänzerisch, aber es hat auch etwas Provisorisches; jeden Moment kann es sich verändern. Diese quecksilbrige Qualität und zugleich die Vollkommenheit zu vermitteln ist sehr schwer. Im ersten Satz von op. 135 spürt man den Geist von Mozart; der zweite erinnert mit seinen Späßen und der rhythmischen Vitalität eher an Haydn. Beethoven hat von beiden Komponisten eine Menge gelernt.

JCL | Hat sich das Takács Quartet noch mit anderen Komponisten so intensiv wie mit Beethoven beschäftigt und das ent­sprechende Gesamtwerk, also einen Zyklus von Streichquartetten, aufgeführt oder eingespielt?
ED | Unser zweiter wichtiger Quartettzyklus ist der von Béla Bartók, auch wenn er nur sechs Werke und nicht sechzehn wie bei Beethoven umfasst. Als ich dem Ensemble beitrat, gehörte es zu meinen ersten Aufgaben, alle Quartette Bartóks zu lernen und sie als Ganzes aufzuführen.

ML | Für einen Musiker eine große Herausforderung. In einem Konzert ist ein Bartók-Quartett aber auch für das Publikum sehr anspruchsvoll.
ED | Ja. Hier liegt der Vorteil von Werkzyklen: Man muss und kann als Musiker und als Zuhörer ganz in die Sprache des Komponisten eintauchen. Aber es gibt nicht viele, die einen so reichhaltigen Zyklus an Streichquartetten komponiert haben. Ich liebe z.B. Brahms, aber ein Konzertabend nur mit seinen drei Quartetten ist für meinen Geschmack nicht so gut; das ist, als würde man nacheinander drei Steaks essen. Sie sind, anders als Bartóks Stücke, nicht unterschiedlich genug. Für ein Konzert­programm kann man natürlich auch gut diverse Schostakowitsch-Quartette zusammenstellen. Schubert ist dagegen eine Heraus­forderung. Seine letzten Quartette sind wunderbar, mit seinen frühen Stücken tut man sich in der Regel sehr schwer.

JCL | Weil sie kompliziert zu spielen sind oder weil es schwer ist, dafür Interesse zu wecken?
ED | Beides (lacht). Kein Vorwurf an Schubert, aber Brahms blieb da seinen Idealen treuer; er hat seine ersten Quartett­kompositionen einfach zerrissen. Das hätte Schubert mit einigen seiner frühen Werke auch tun sollen … Spielt man in einem Konzert ein frühes, ein mittleres und ein spätes Schubert-Quartett (z.B. Der Tod und das Mädchen), sind der Unterschied und die Entwicklung atemberaubend. Keine Ahnung, was mit diesem Menschen passiert ist. Als hättest du einen komplett anderen Komponisten vor dir – wie wenn du es zunächst mit einem zweit- oder drittklassigen Künstler zu tun hast, und plötzlich ist er ein Genie.

ML | Es inspiriert Sie, wenn Sie live spielen. Sie bauen im Konzert eine Verbindung zu den Zuhörern auf. Vermissen Sie das Publikum bei einer Einspielung?
ED | Der Unterschied zwischen Konzert und Aufnahme ist tatsächlich groß. Die Zuhörer beeinflussen beispielsweise die Überraschungsmomente in einem Haydn-Quartett – wenn etwas passiert und unvermittelt eine Pause eintritt. Man merkt in der Situation, ob das Publikum wirklich dabei ist. Ist die Qualität der Pause da, kann man ein bisschen länger warten, bevor man weiterspielt. Man lässt dann zu, dass die Anwesenheit der Zuhörer und die Akustik mitbestimmen, wie man die musikalischen Ereignisse zeitlich gestaltet und die dynamische Bandbreite bemisst. Spielt man sehr leise und das Publikum ist ebenfalls sehr leise, traut man sich, die Dynamik genau darauf abzustimmen; hört man aber das Husten usw., beeinflusst das auch die Lautstärke. Man reagiert auf die gesamte Wahrnehmung innerhalb des Raums. Bei einer Aufnahme dagegen muss man eine Art Ersatz schaffen. Der Produzent sitzt ja mit seiner Ausstattung und mit Kopfhörern in der Kabine, hört zu und gibt ständig Feedback. Auch das ist eine Art Publikum. Schwer ist es allerdings, einen Sinn für Unmittelbarkeit und Spontaneität zu entwickeln. Das gelingt uns am besten, wenn wir uns klarmachen, dass die Mikrophone uns die Freiheit zum Ausprobieren geben und wir das musikalische Geschehen dadurch auf verschiedene Weisen ausdrücken können; das hilft, eine andere Art von Spontaneität herzustellen. Es gibt Stellen in unseren Beethoven-Aufnahmen, die wir in einem Konzert wohl nie so gespielt hätten und die uns auch nie so gelungen wären, denn nur bei einer Einspielung sind die Mikrofone so nah, dass sie bestimmte Nuancen oder subtile Veränderungen der musikalischen Struktur ein­fangen können.

JCL | Welche Art von Musik hören Sie privat am liebsten?
ED | Definitiv keine Streichquartette (lacht). Ich höre nicht so viel Musik, wie ich vielleicht sollte, aber nach vier, fünf Stunden Arbeit sind meine Ohren ein bisschen müde!

ML | Ziehen Sie es dann vor, ein Buch zu lesen?
ED | Ja, ich lese sehr gern. Und höre auf meinen Reisen z.B. Podcasts. Als Musik würde ich eher Klavier- oder Orchester­stücke wählen. Jedenfalls höre ich nicht viel Violinmusik, das habe ich als Student zur Genüge getan.

JCL | Springen wir ins Beethoven-Jahr 2020 … Haben Sie eine Lieblingssinfonie? Können Sie ein Kammermusikstück, abgesehen von den Quartetten, nennen, das Ihnen besonders am Herzen liegt?
ED | Das ist eine schwere Frage! Ich würde wohl die 6. Sinfonie, die Pastorale, wählen. Beethoven ist hier in einer besonderen Gemütsstimmung; man spürt die Freizügigkeit und Weite. Ich verbinde mit ihm den Geist des Wanderns, des Umherschweifens; er findet seine Inspiration in der Natur. Einige meiner liebsten Passagen in diesem Werk sind jene Stellen, wo die Musik quasi vom Weg abkommt. Wir wissen von Beethoven, wie er sich bei seinen Spazier­gängen verlief, ganz in Gedanken ver­sunken. Meine liebste Violinsonate ist die letzte Sonate, op. 96, dieses intime, geheimnisvolle Stück, das so unglaublich schön ist und so unheimlich schwer zu fassen.

JCL | Und eine Klaviersonate?
ED | Da kann ich nicht nur eine nennen, da muss ich zwei wählen. Die Appassionata elektrisiert mich immer wieder neu. Hier haben wir die dramatische Seite von Beethoven. Aber auch die späte Klaviersonate op. 109 mit ihren leuchtenden, singenden, hohen Linien und der Stimmung des Erkundens schätze ich besonders. Als 1. Geiger eines Streich­quartetts sind meine liebsten Passagen natürlich jene, wo man sich in die Höhe schwingt, wo man sich an der Spitze des Klangs bewegt, weit oben, ätherisch. Das ist die Seite an Beethoven, die mich derzeit am mächtigsten anspricht und ergreift.

Aus dem Englischen von Martin Lintz